INFOBAHN BLUES
Robert Adrian



In: "Medien und Öffentlichkeit", Rudolf Maresch (Hrsg.), Klaus Boer Verlag, München, 1996

Seit der amerikanische Vize-Präsident Al Gore vor ein paar Jahren in Kalifornien seine berühmte Rede hielt, kann man keine Zeitung und keinen Fernsehbericht durchsehen, ohne wenigstens einem Hinweis auf den "Information Superhighway" zu begegnen. Diese - speziell auf Gores kalifornisches Publikum zugeschnittene - Metapher der Datenautobahn ist in so ausserordentlicher Weise simplifizierend, dass sie auch den letzten Medienredakteur der westlichen Hemisphäre um den Verstand gebracht zu haben scheint. Bei einer Datenautobahn stöpselt man einfach sein Modem ein, fährt seine Daten auf die Einfahrtspur, und hinein geht die Fahrt in den Datenfluss, wo sie die Bahn entlangrasen, bis sie die richtige Abfahrt erreichen. Dasselbe gilt für das Abrufen von Daten: überall verlaufen ordentlich gerade geführte Datenfahrbahnen mit Ein- und Ausfahrten und gut überhöhten Kurven. Man sucht sich seinen Weg über die Verbindungskreuze, genau wie jeder Pendler nach L.A., nur viel bequemer. Die Metapher der Autobahn bedroht weder den status quo noch stellt sie vorherrschende Ideologien in Frage, wie das etwa jener andere, frühere, von William Gibson und Bruce Sterling geprägte Begriff für Vernetzung, "Cyberspace", getan hat. Cyberspace kennt keine Strassen, Kreuzungen, nicht einmal Richtungen, er ist schlicht ein ungeheures Universum von Verbindungen in einem vieldimensionalen Datenfeld. Im Cyberspace kann man sich verirren, es ist dort dunkel und bedrohlich und ausserdem verseucht durch stoppelköpfige Hacker mit dreckigen Fingernägeln und schmuddeliger Hardware. Cyberspace ist unendlich, chaotisch und beängstigend, wohingegen Mr. Gores Superhighway eingegrenzt ist, geradlinig und sehr vertraut - wenigstens dem Vorstadt- Amerikaner, der schliesslich Gores Wählerschicht stellt. Die Infobahn wird von Menschen wie du und ich benutzt. Sie erstreckt sich hell und sonnig, mit freundlichen Daten-Hainen zu beiden Seiten, bis in weite Ferne. Die Metapher Superhighway zähmt gleichsam den Cyberspace, um ihn für die amerikanische Durchschnittsfamilie annehmbar erscheinen zu lassen als etwas, an dem die ganze Familie ihre Freude hat. Das Datenauto kann in der Familiengarage abgestellt werden. Die Databahn verwandelt Daten in Waren - in Form von Artikeln wie On-line Video-Spielen, Filmen, Versandkatalogen -, so dass sie wie jeder andere Konsumartikel vermarktet werden können. Sparen Sie sich den Weg zum Hypermarkt, bestellen Sie einfach im Netz!

Natürlich hat das alles mit dem Telefon zu tun, und die Infobahn ist nichts anderes als eine Breitbandversion des altmodischen Fernsprechers; nicht des unvermittelten, digitalisierten Büroutensils, sondern jenes Telefons, das ein offenes System war, mit Gemeinschaftsanschluss und neugierigen Vermittlerinnen. Wir könnten unsere Zeit auch als die "Telefon-Ära" beschreiben oder, ohne zu übertreiben, das 20.Jahrhundert als das Jahrhundert des Telefons. Das Telefon war und ist immer noch das einzige allgemein verfügbare, nicht programmierte, allen Teilnehmern offenstehende, persönliche, interaktive Medium zur Kommunikation - abgesehen vom unmittelbaren persönlichen Kontakt. Programmorientierte Rundfunkmedien wie Radio und Fernsehen sind über Satellit, Richtfunk oder Kabelnetz- anschluss überall verfügbar, aber sie sind Einbahn-Systeme, in denen eine Ware - Information, Unterhaltung, Dienstleistungen - an eine breite Schicht von zumindest potentiellen Verbrauchern vertrieben wird. Feedback erhalten diese Systeme in Form von Einschaltquoten oder durch Analysen der Verkaufsziffern der in der Werbung angepriesenen Produkte. Beim Telefon dagegen ist die Dienstleistung selbst die Ware, die erst der Benutzer, die Benutzerin mit Inhalt füllt. Das heisst, die Benutzer kommunizieren in wechselseitigem Austausch zwischen gleichberechtigten Partnern. In diesem Sinn stellt das Telefonnetz einen öffentlichen Raum dar, einen Treffpunkt für alle, die angeschlossen sind.

In unserem Zeitalter des Eigentumsfetischismus ist es um den "Telefon-Raum" insofern seltsam bestellt als niemand ihn besitzt, weder die Telefongesellschaften, die lediglich die Dienstleistung anbieten, noch die Regierungen, die sie sich regulierend und schnüfflerisch einmischen, noch die Kunden, die ihn einfach für selbstverständlich hinnehmen wie Regen oder elektrischen Strom. Und hierin liegt das Problem: öffentlich nutzbare Versorgungseinrichtungen oder Räume können keiner Profitmaximierungs Strategie unterworfen werden. In einem Zweiweg-Kommunikationssystem, das wie das Telefon nach dem Schema Niedrigpreis gegen schlechte Qualität arbeitet, sind die Möglichkeiten für wertsteigernde Zusatzleistungsangebote äusserst begrenzt, und das Wachstum in einem gesättigten Markt wie Nordamerika oder Westeuropa kann sich nur noch schleppend steigern. Die meisten Telefonkunden wollen einfach miteinander sprechen und das eine oder andere Fax hin- und herschicken. Der Kuchen ist zu klein, und seit der Öffnung des Marktes sind der Esser zu viele. Die Antwort scheint in der Erweiterung der Bandbreite zu liegen. Erweiterte Bandbreite ermöglicht die Eroberung des Telefonraumes durch die kommerzielle Werbung, seine Besetzung durch Angebote aus dem Bereich des "Infotainment", seine Umwandlung in ein Einkaufszentrum. Erweiterte Bandbreite ist nicht besonders interessant für diejenigen, die einfach miteinander sprechen wollen - andererseits sind Menschen, die bloss miteinander reden wollen, noch viel weniger interessant für die neuen Telecom Gesellschaften, die ihren Profit in der Hauptsache aus den Produkten und Dienstleistungen beziehen werden, die sie über Kabelnetz verkaufen oder vermieten. Was diese Gesellschaften wirklich wollen, ist interaktives Kabelfernsehen - wobei die Interaktion sich auf On-line Shopping, Video-Spiele und Pay-TV-Filme beschränkt und das Telefonieren als Dreingabe mit draufgelegt wird, weil es so gut wie keinen Raum im Kabel beansprucht. Nach dieser Definition ist die Infobahn kaum mehr als ein Katalog von Produkten, Dienstleistungen, Informationen und Unterhaltung, die via Kabel bestellt, gekauft und konsumiert werden können. Mr. Gores Superhighway ist in Wirklichkeit eine elektronische "Golden Mile", an der man entlangschlendert wie an den Schaufenstern eines beliebigen Vorstadt-Einkaufszentrums, auf der Suche nach Unterhaltung, Sex, Spass und Konsumgütern.

In Wirklichkeit projiziert die Datenautobahn nur bereits bestehende Züge westlichen sozialen und kulturellen Verhaltens hinein in die neuen elektronischen Kommunikationssysteme. Die Überzeugungskraft der Metapher liegt in der Implikation, da ja alles beim alten bleiben werde, nur um vieles verbessert; viel bequemer, viel gemütlicher, mehr Unterhaltung zuhause, leichteres Einkaufen, weniger Fahrerei. Die TV-Bildschirme, wie sie im durchschnittlichen Eigenheim der Mittelklasse allgegenwärtig sind, werden zu Fenstern in Richtung "Cyberspace", der für die bequeme Datenkreuzfahrt asphaltiert worden ist. Büroangestellte können ihr tägliches Arbeitspensum am Frühstückstisch abrufen und ihr Tagwerk am Ende von acht Stunden auf der Infobahn in den Zentralrechner der Firma eingeben - und dann umschalten auf Infotainment und das Surfen auf 400 Kanälen voller Konsumdaten. Die Netzwerke hinter dem flimmernden Bildschirm sind ebenso wie die arbeitsparenden Zubehörteile und Hi-Tech Haushaltsgeräte einzig dazu da, das Leben des Kleinbürgers im postindustriellen Zeitalter bequemer zu gestalten - und profitabler für die Firmen. Völlig übergangen wird die Tatsache, dass sogar heute schon der grösste Teil der Bandbreite der neuen Netzwerke von Computern genutzt wird, die miteinander kommunizieren, absolut unabhängig von menschlichen "Benutzern", Programmierern oder Kontrolleuren, und diese Tendenz steigt weiter. Das ungeheure Ausmass des Datenverkehrs zwischen Computern verstopft bereits jetzt das Telefonsystem, und der Zuwachs auf dem Gebiet der Computerkommunikation - Internet und andere Netzwerke, On-line Datenbanken, E-mail, etc. - lähmt es von Tag zu Tag mehr. (Schon 1992 gingen schätzungsweise 50% aller Telefonate in den U.S.A. auf das Konto von Computern beim Datenaustausch.) Ein Breitband- und Hochgeschwindigkeitsnetzwerk für die Kommunikation zwischen Computern ist zur Notwendigkeit geworden, und "Infobahn" ist einfach ein praktischer Name dafür - für ein Netzwerk aus Glasfaserkabel, das grosse Mengen digitaler Daten bei hoher Geschwindigkeit zwischen Computern transportiert und dabei ein Standardprotokoll benützt.

So beginnt Mr. Gores Metapher vom geradlinigen "Superhighway" auch an dieser Stelle ihre Glaubwürdigkeit einzubüssen. Ein Plan des zwei- dimensiolnalen Datenflusses könnte wie eine Strassenkarte aussehen, und strassenähnliche Verläufe und Knotenpunkte können auch aus der dreidimensionalen Wiedergabe von Datenhierarchien und -pfaden herausgelesen werde; trotzdem ist klar, dass ein "Netzwerk" von Verknüpfungen, die jeweils aus gleichzeitigen Interaktionen von enormen Datenmengen bei Lichtgeschwindigkeit bestehen, wenig gemein hat mit einer Autobahn, und hätte sie noch so viele Fahrspuren, Verkehrsebenen und Kreuzungen. Das Daten-Netzwerk, das uns die Einführung eines Breitband-übertragungssystems verspricht, kann wesentlich besser mit der nicht-linearen Vorstellung von "Cyberspace" beschrieben werden, dem Bild einer multidimensionalen Matrix von untereinander verflochtenen Daten, die fast zufällig Gestalt annehmen und wieder verlieren. Es fällt schwer sich vorzustellen, in einem solchen Umfeld ein "Benutzer" zu sein, vielleicht aber gibt es die Möglichkeit teilzunehmen, oder ganz einfach anwesend zu sein.

In die Metapher von der Datenautobahn eingebettet ist die Vorstellung, dass sich trotz aller Veränderungen, die unsere Gesellschaft und Kultur durch die neuen digitalen Kommunikationstechnologien erfahren haben, imgrunde gar nichts geändert hat, und dass die Entwicklung der Maschinen ausschliesslich dem Vorteil und der Annehmlichkeit des menschlichen "Benutzers" diene. In diesem Sinne versäumt es diese Metapher nicht nur, die kulturellen Auswirkungen der neuen Technologien anzusprechen, sondern transportiert zudem unkritisch und opportunistisch das Klischee von der Herr-Diener Beziehung zwischen Mensch und Maschine. Indem der TV- oder Monitor-Bildschirm als Windschutzscheibe des Datenautos gesehen und der Mensch als "Benutzer" auf dem Fahrersitz plaziert wird, sozusagen am Brennpunkt des Netzwerks, wird es möglich, dass die Pfade der Interaktion dieses spezifischen Benutzers mit dem Datenfluss Strassenähnlich empfunden werden. Doch man ist selten allein On-line, und die Datenstrasse, die jede/r UserIn vor sich hat, verbindet sich in Wirklichkeit jeden Augenblick immer wieder neu mit denen der anderen UserInnen und alle zusammengenommen verknüpfen sich zu einem unberechenbaren Knäuel von Bahnen, so dass sich der Datenraum Nanosekunde für Nanosekunde, je nach den Bewegungen des "Benutzers" an der Tastatur ständig umformt. Setzen wir den "Benutzer" ins Zentrum des Netzwerkes, und erklären wir das Netzwerk zu seiner Schöpfung und zu seinem Bediensteten, so ergibt sich daraus die Folgerung, dass das Netzwerk stilliegt, wenn kein "Benutzer" aktiv ist; dass es dann lediglich mit seiner eigenen Wartung beschäftigt ist und darauf wartet, dass jemand eine Befehlstaste drückt, so wie ein Spielautomat auf das klimpernde Fallen der Münze wartet. Natürlich ein absurder Gedanke, denn wir wissen ja auch, dass die Computer-Netzwerke mit oder ohne menschliche Anwesenheit ganze Systeme steuern: die Strom- und Wasserversorgung, Transportsysteme, Lager- und Warenbestände genauso wie das Rechnungswesen, Telefon- und Kommunikationsnetze, sowie die gesamte Infrastruktur des Weltfinanzmarktes - Börsen, das Versicherungs- und Bankwesen, ganz zu schweigen von Regierungsapparaten oder von industriellen und militärischen Überwachungs- und Kontrollprogrammen.

Absurdität und Widersprüche bilden in der Rhetorik der neuen elektronischen Medien eher die Regel als die Ausnahme. Die Torheit der Metapher von der zweidimensionalen Datenautobahn wiegt ziemlich leicht, zum Beispiel im Vergleich mit der Arroganz der Behauptung, es gäbe ein allgemeines, weltumspannendes Telefonnetzwerk. Denn eigentlich weiss jeder, dass nicht mehr als 10% der Weltbevölkerung heute persönlichen Zugang zu einem eigenen Telefon haben, und dass für die meisten Menschen in unserer Zeit ein privater Telefonanschluss einen unvorstellbaren Luxus bedeutet. Aber dieses Wissen konnte nicht verhindern, dass enorme Summen in globale Telekommunikationsprogramme investiert worden sind (zum grössten Teil in Zusatzangebote und Zubehör), ausgehend von der Annahme, dass das Telefon bereits in jeder Hinsicht allgegenwärtig sei. Zwei Arten von Realität scheinen hier aufeinanderzuprallen: die des echten Planeten und seiner Bewohner und die einer virtuellen Welt der Kommunikation, deren Infrastruktur von Benutzern, beziehungsweise Verbrauchern bevölkert wird. Da die überwiegende Mehrheit der Menschen kein Telefon besitzt und noch dazu kaum über Kaufkraft verfügt, kann sie zu keinem Benutzer- oder Verbraucherstatus gelangen, ausser als Konsument der abgedroschenen Filme und Fernsehkomödien, die die Satelliten über sie ergiessen. (Billige Radio- und Fernsehempfänger sind an die Stelle der Glasperlensäckchen und billigen Stoffballen getreten, die vor ein, zwei Jahrhunderten beim 'Kauf' von Land und zur Untergrabung der Kultur der Neuen Welt eingesetzt worden sind.)

Aber in unserer von den Medien beherrschten Kultur hat die virtuelle Realität des Fernsehbildes eine solche Macht erlangt, dass die "Medienrealität" wirklicher geworden ist als die tatsächliche Wirklichkeitserfahrung und der grössere Teil der Menschheit unsichtbar bleibt, oder höchstens gelegentlich in Verbindung mit irgendeiner Naturkatastrophe, mit Krieg oder Revolution auftaucht. Das heisst, er wird zur "Nachricht", und sein Elend eine Ware für die Infotainmen-Medien. Die bestürzende Naivität des von der Technologie benommenen, dabei wohlmeinenden, politisch korrekt denkenden und liberalen Internet-Kunden, der überzeugt ist, dass sich alle Probleme lösen werden, sowie jeder an das "World Wide Web" angeschlossen ist, ist symptomatisch für die Schizophrenie der (post)modernen Medienkultur. Denkt man über die erstaunliche Zukunft der Technologie nach, wie sie uns die Verteidiger des Datenautobahnmodells und die Magnaten der Cyber-Industrie versprechen, dann tut man gut daran, sich zu erinnern, dass diese Technologie ausschliesslich diejenigen von uns betrifft, die über Telefon, elektronische Spielereien und Kaufkraft verfügen.

Der wahre Konflikt jedoch, die echte Verwirrung liegt im ontologischen Problem der Beziehung zwischen Mensch und Maschine. Die Entwicklungsgeschichte mechanischer, sowie elektronischer Maschinen entspricht eigentlich dem Märchen von der Erschaffung eines "Sklaven" aus Metall oder Silizium - eines gefügigen Automaten mit übermenschlicher Stärke und Ausdauer. In diesem Zusammenhang können zum Beispiel die AI- oder die Robotik-Forschung als Teil des jahrhundertealten Traums von der Erschaffung autonomer, menschenähnlicher Diener verstanden werden. Der Computer selbst ist das Ergebnis eines solchen Programms, dessen Ziel es war, gehorsame, zahlenzermalmende Automatendeppen zu bauen, die die Plackerei mit komplexen mathematischen Rechenaufgaben erledigen. Viele Wissenschaftler, Theoretiker und Forscher auf dem Gebiet der Computer- und Roboterentwicklung, glauben heute noch, dass sie es bei ihrer Arbeit mit prothesenähnlichen elektronischen, beziehungsweise technischen Hilfsgeräten zu tun haben, Verlängerungen des menschlichen Hirns und Körpers. Ebenso wie Roboter für gewöhnlich als menschenähnliche Wesen beschrieben werden, (obgleich unsere Welt in Wirklichkeit gespickt ist mit roboterartigen Hilfsmitteln, die meistens unbemerkt bleiben, weil sie dem Menschen völlig unähnlich sind: die Kaffeemaschine auf dem Gang, der Thermostat an der Zentralheizung, der automatische Anrufbeantworter), erscheint in Beschreibungen und Erklärungen immer wieder das menschliche Gehirn als Modell dafür, wie ein interaktives elektronisches ("neurales") Kommunikationsnetzwerk im wesentlichen funktionieren könnte. Das menschliche Gehirn scheint das einzige Modell einer Intelligenz zu sein, das wir erkennen und auch anerkennen können, auch wenn die elektronischen Geräte, die wir erschaffen haben, und denen wir einen Grossteil der Kontrolle über unsere zutiefst lebenswichtige Infrastruktur im sozialen, politischen und finanziellen Bereich übertragen haben, eine Intelligenz besitzen, die sich vom menschlichen Vorbild ganz wesentlich unterscheidet.

Unter Computerfachleuten wird allgemein anerkannt, dass dem menschlichen Gehirn - und was das betrifft, in gleicher Weise dem Gehirn eines jeden Tieres - eine weit grössere Fähigkeit zur Datenverarbeitung eigen ist als jeder erdenklichen intelligenten Maschine. Aber die Kapazität des Tierhirns wird grösstenteils davon in Anspruch genommen, sich in der Umwelt zu bewegen und mit ihr zu interagieren, wobei es beständig ungeheure Mengen von schnell einander ablösenden Daten in Echtzeit verarbeitet. Und die menschliche Intelligenz ist unglücklicherweise ebenfalls vollgestopft mit ablenkenden Gefühlen wie Angst, Sexualität, Vergnügen, Eifersucht - ganz zu schweigen von Familie, Spiel, Karriere und Drogen. Computer dagegen stehen der Welt weitgehend gleichgültig gegenüber. Meistens ortsgebunden, sitzen Computer einfach da und denken - d.h. sie verarbeiten Informationen, die von mobilen Kräften, wie z.B. Menschen, gesammelt werden, die ihrerseits ihre Aufgabe darin sehen, in der Welt herumzukommen, ständig auf der Jagd nach Daten.

So werden also in mancherlei Hinsicht die "Sklaven" schon heute von ihren Herren bedient. Tatsächlich haben sich die "Sklaven" zu solcher Effizienz bei der Ausführung der ihnen übertragenen Aufgaben entwickelt, dass es nun in unserem eigenen Interesse liegt, sie noch "intelligenter" zu machen, noch unabhängiger, so dass wir ihnen noch mehr von der organisatorischen Kleinarbeit übertragen können. Desgleichen muss es in unserem Interesse liegen, die Maschinen zu befähigen, das potentiell zerstörerische Eindringen von zunehmend verfeinerten und findigen Störenfrieden rechtzeitig zu entdecken und abzuwehren, was wiederum bedeutet, dass die Maschinen im gewissen Sinne mit einem Bewusstsein ausgestattet werden müssen, und sei es nur auf dem Niveau einer Auster.

Wenn wir nach einem Modell oder nach einer Metapher für die Intelligenz von Maschinen suchen, so müssen wir uns dort danach umschauen, wo Daten in äusserst einfacher Form - so einfach wie ein digitaler Code - in Netzwerken ausgetauscht werden, die festverwurzelte oder nur geringfügig mobile Lebensformen untereinander verbinden: in Wäldern, Schellfischkolonien oder Ameisenhügeln. In einem echten Netzwerk bewegt sich nichts. Sind die Daten einmal darin gespeichert, sind sie allgemein gegenwärtig - sie reisen nirgendwohin, noch reist irgendjemand irgendwohin, um sie zu finden. Das ist es, was für Angehörige mobiler Industriekulturen so schwer zu verstehen - und gleichzeitig, was den Begriff des Cyberspace betrifft, so faszinierend ist. In Gibsons "Neuromancer" schiesst der Protagonist geradezu ein ins Netz. Er ist kein Benutzer, er sitzt nicht am Steuer seines Datenautos, um damit die Datenautobahn entlangzurasen - er taucht einfach ab ins Netz, verschwindet in ihm und wird Teil des Datenflusses.

Cyberspace unterscheidet sich so grundlegend von dem Begriff der Datenautobahn, weil das Element der Zentriertheit auf den Menschen fehlt, oder zumindest nicht im Vordergrund steht. Kein Mensch kontrolliert Cyberspace, er existiert nicht zum Nutzen oder zur Arbeitserleichterung für den Menschen, und niemand "befährt" ihn. Der Begriff Cyberspace enthält nicht den geringsten Hinweis darauf, dass das Netzwerk aus Maschinen, die ihn konstituieren, mit der Menschheit verschwinden würde, sollte diese plötzlich aufhören zu existieren - oder sich selbst in einem Akt nuklearen Wahnsinns auslöschen. Der Begriff Cyberspace setzt vielmehr voraus, dass die Maschinen, die wir konstruiert haben, sich schon bald - mit einem Satz von fast magischer Synergie - von ihren Schöpfern losreissen werden, um mit Hilfe der Kommunikationsnetzwerke, die wir so grosszügig für sie aufbauen, ein Universum oder eine Natur mit völlig neuen, anderen Gesetzen erstehen zu lassen.

Vielleicht haben sie es schon getan.


Robert Adrian,
Wien, Dezember 1994
(übersetzt von Sybille Wagner