Burghart Schmidt, Der Schädliche Raum

Transkription eines Vortrags über die Installation "Der Schädliche Raum" von Sodomka/Breindl in der Galerie "Das Dach" (nachm. Galerie Theuretzbacher), Wien, 1987 (Ausschnitt)


"Der Schädliche Raum" - was ist das?

Das ist ein Bild - und ich bin bekannt und befreundet mit den hier die Ausstellung gemacht habenden Künstlern, das hat ihnen das Motiv gegeben, dieses Bild vom "Schädlichen Raum", ein Bild, das Ernst Bloch aufgegriffen hat. Er hat es aufgegriffen aus der Mechanik, oder der Aeromechanik. Schädlicher Raum bedeutet in der Aeromechanik technisch jenen letzten Rest, der in einer Luftpumpe übrig bleibt, den man nicht auspusten kann, der allerdings wieder einen technischen Vorteil hat: Er treibt den Stöpsel zurück. Bei der Optimierung, die in jeder technischen Orientiertheit liegt, ist das natürlich ein Verlust. Es wäre besser, den ganzen Luftraum der Luftpumpe auszunutzen. Aber es bleibt ein Rest - schädlicher Raum – man schafft das nicht bei größtem Kraftaufwand; allerdings: würde man‘s schaffen auch bei Strafe dessen, daß der Stöpsel nicht mehr zurückginge. Er würde ankleben.

Trotzdem haben also die Techniker und Aerodvnamiker das "Schädlichen Raum" genannt, also als Verlustpunkt. Bloch hat das übertragen auf das Problem einer Kunst, die noch immer an dem einerseits naturalen Thema hängt, der Renaissance, andererseits an dem romantischen Thema eines Zusammenbringens von Kunst und Leben, Ineinander-Vermitteln von Kunst und Leben. Man darf die Romantik ja nicht mißverstehen. Die Romantik war eine Bewegung, die eigentlich nicht etwa daraus bestand, Weltflucht zu betreiben, was oft an ihr hängt, sondern die Romantik war eine Bewegung resignativer Versuche, die nicht gelungene Revolution von 1789 im Künstlerischen experimentell modellhaft doch noch zum Erfolg zu führen. Die Romantik experimentierte mit Produktionskommunen u.ä. in der Meinung, der Mensch müßte erst revolutioniert werden, bevor er eine wirklich ordentliche gesellschaftliche Revolution machen kann. Unveränderte Menschen werden in jeder Art revolutionärer Bewegung wieder in die alten Strukturen zurückfallen, und das sei eine Lehre aus der französischen Revolution. In solchen Zusammenhängen hat also die Romantik mit Kunst und Leben nicht eine Flucht in die Kunst gemeint, sondern gedacht, man könne in der Kunst sich experimentell vorbereiten auf das richtige Leben. Seither steckt intensiv in der Kunst der Umstand, die Getrenntheit des Kunstraums zum wirklichen Umraum zu überwinden, zu überwinden, gesetzt wird, daß sie da ist, die Getrenntheit - das versteht sich von selbst - durch Rahmung und Sockelung jeder Art. Das war der Kunst auch immer bewußt. Aber es ging darum, die Getrenntheit zu unterwandern oder zu überfliegen. Dazu meinte Bloch mit dem "Schädlichen Raum", es sei zwischen dem Betrachter und einem Kunstwerk ein - wie man das so gelehrt nennt - Hiatus, d.h. ein Abgrund, ein Einriß. Der Betrachter müsse sich die ganze Zeit vor einem Bildwerk die Frage stellen: Wo hört mein wirklicher Raum auf und beginnt der Bildraum? Ein Bruch ist da, den er überspringen muß. Entweder er läßt sich auf den Bildraum ein, oder er bleibt in seinem wirklichen Raum und nimmt den Bildraum nur so grade von der Seite her mit, konstatierend: Ich habe das Bild gesehen, das Bild gesehen, das Bild gesehen, und das Bild hängt dort, das Bild hängt dort, oder die Plastik steht dort, steht dort, steht dort; egal wie, er nimmt’s am Rand mit. Dann bleibt er im wirklichen Raum, ganz klar. Es gibt in einem Godard-Film eine schöne Szene. Da stehen so Jugendliche zwischen 17 und 18 in Gruppe auf einer Seine-Insel, und einer erzählt: "Ich hab‘ grad‘ in der Zeitung gelesen; ein Amerikaner hat einen Louvre-Rekord aufgestellt: in 15 Minuten durch den Louvre." Darauf sagt sofort einer der Gruppe: "Den Rekord brechen wir!" Natürlich machen sie das, und in der Tat: Sie schaffen es in fünf Minuten.

Eine solche Sichtweise geht natürlich an den Problemen des Schädlichen Raums vollkommen vorbei. Der Schädliche Raum in diesem Bruch von Bloch erfragt, tendiert auf zwei Motive, die in der Kunst in der Tat immer sehr stark geherrscht haben. Das meint im Grunde das Motiv von Kunst und Leben. Sie sind gegenläufig und haben trotzdem miteinander zu tun. Das eine Motiv ist das berühmte Pvgmalion-Motiv. Pvgmalion, ein antiker Bildhauer, versucht, eine Skulptur zu machen, von der er hofft, er macht sie so perfekt, daß sie lebendig wird; eine Skulptur einer Frau, versteht sich für einen Mann. Daß sie lebendig wird. Dieses Streben ist ja bis in die Motive vom Künstler als "alter Deus" gegangen, als "anderer Gott", der genauso Menschen schafft, wie es Gott getan hat.

Das andere Motiv hat Bloch in einer "Spuren"-Geschichte erzählt. Und diese "Spuren"-Geschichte schildert den Umstand eines chinesischen Malers, der einfach es mal satt hat, in seiner Kunst immer weiter fortzufahren. Er sagt seinen Freunden: "Ihr müßt lange warten, bevor ihr von mir wieder einmal was zu sehen bekommt, denn ich habe jetzt vor, nur noch ein Kunstwerk zu machen, und dann ist alles fertig." Er arbeitet und arbeitet, läßt sich nirgendwo sehen, eines Tages kriegen sie trotzdem Post, und in der Post steht: Es sei jetzt schließlich soweit, daß dieses eine Kunstwerk, das er noch machen wolle, ganz kurz vor seiner Vollendung stünde. Sie sollten kommen ins Atelier, um die letzten Striche an dem Bild zu erleben. Ja sie kommen und versammeln sich um ihn. Er fängt an, die letzten Striche zu machen, aber mit dem Machen der letzten Striche gerät er immer mehr ins Bild hinein, als wenn er sich verkleistert hätte mit der Farbe, und die Farbe ihn jetzt zieht, wie wir es von weichgemachtem Käse kennen. Schließlich ist er im Bild. Im Bild betritt er eine Allee, die in die rief e führt, in der Tiefe steht ein Palast, der Palast hat eine rote Tür. Er geht zu dieser Tür, öffnet sie, winkt seinen Freunden zu, macht die Tür hinter sich zu und war auf immer verschwunden.

Umkehrung des Motivs. In dem einen Fall möchte der Künstler etwas machen, das zu Leben erwacht, im anderen Fall möchte er sich selbst als Lebendigen in sein Kunstwerk hineinbringen, so daß er gar nichts mehr wäre als sein Kunstwerk.

Das sind natürlich Überwindungsformen jenes "Schädlichen Raums", den Bloch zur Frage gestellt hat: Was hat es damit auf sich? Und wir haben wirklich verdammt schwer damit zu tun. Wenn wir daran denken, daß wir bei Benjamin etwa, auf die "Aura" stoßend, mit einer Kunstvorstellung zu tun haben - bei Benjamin meint Aura eine Kunstvorstellung, die er selber sehr scharf kritisiert - trotzdem konstatiert er sie als eine neuzeitliche, seit der Renaissance laufende, langphasige Kunstvorstellung, die er an den Begriff des "Rahmens" hängt. Der Rahmen versucht in der Tat, den Bildraum so einzuschließen, daß wir nur die Entscheidung haben: Entweder wir lassen uns auf den Bildraum des Bildwerkes ein - und Rahmen können wir auch durch Sockel ersetzen oder durch die Ornamente der Architektur, auch die haben rahmende Funktion - entweder wir lassen uns auf den Bildraum ein, oder wir lassen uns nicht auf ihn ein. Lassen wir uns auf ihn ein, passiert etwas, das Benjamin folgendermaßen schildert: Die Aura oder das Gerahmte ist eine Zeichenform, die den Betrachter einsaugt, den Betrachter einhüllt, den Betrachter einfängt. Dagegen etwa so etwas wie die "Spur" sei ein Zeichen mittels dessen der Spurenleser sich des durch dieses Zeichen Verwiesenen bemächtigt. Das ist klar, das weiß man aus der Jägerei: Der Jäger findet eine Spur, er verfolgt sie und gerät damit an das verfolgte Tier, das er dann schießt oder einfängt. "Spur" bemächtigt sich also einer Sache, "Aura" bemächtigt sich des Betrachters.

Benjamin hat das kritisiert, indem er sagte: Wir in unserer neuen Kunsttechnik haben es mit Medien zu tun, die die Aura sprengen. Wie immer man das interpretiert, von Fotografie zu Film hin. Aber es gibt nichts Gerahmtes mehr, nur noch Gerandetes. Alles weist über sich hinaus, statt sich einzuschließen und den Betrachter einzusaugen.

Wenn dem so ist, mußte man sagen: Wir haben froh zu sein über den Schädlichen Raum, statt wie Bloch utopisch sich etwas danach sehnte, daß man den Schädlichen Raum überwinden könnte; daß man also entweder sein Bildwerk lebendig macht oder selber lebendig in das Bildwerk eintritt. Das steht heute zur Debatte; und ich glaube, das ist auch ein sehr stark postmodernes Phänomen und postmodernes Problem, ob wir eher ja sagen sollen zum Schädlichen Raum, oder ob wir utopisch darauf hoffen sollen, daß sich der Schädliche Raum überwinden ließe. Als Faktum steht er offensichtlich da. Als Faktum hat er zu tun mit dem Distanzierungsmoment, das in allem darstellend Zeigen der Kunst liegt. Kunst hat ja, wie Wittgenstein am Beschluß seines "Tractatus" feststellte, mit Zeigemystik zu tun. Es gibt da die Stelle, an der Wittgenstein sagt: Wir können uns nur einwandfrei verständigen, wenn wir eindeutige Sprachen benutzen. Eindeutige Sprachen liefern nur die formalisierten Wissenschaftssprachen und die Verwaltungssprachen. Nur, so fährt Wittgenstein weiter fort, all diese Sprachen geben uns auf die Fragen, die uns wirklich interessieren, keine Antworten. Das ist es nun also: Wir können uns nur eindeutig und ohne Unfälle verständigen über Sachen, die uns nicht wirklich interessieren. Fertig. Das ist das Ergebnis des Tractatus, den andere hochloben als den neuesten Versuch am Beginn des 20.Jahrhunderts, Naturwissenschaften zu legitimieren. Lauter Fragen, die uns gar nicht interessieren, werden beantwortet. Aber Wittgenstein bleibt nicht ganz dabei stehen, das haben die Angelsachsen halt nicht kapiert, er geht weiter. Es gibt doch eine andere Kommunikation, und das wäre die Zeigemystik. Wir können uns gegenseitig zeigen, was uns auffällt. Er meint mit dem Zeigen aber nicht nur dieses einfache Hinweisen auf etwas; sondern er meint mit dem Zeigen künstlerisches Darstellen, statt im Diskurs zu argumentieren. Da ist also ein riesiges Feld des Zeigens, aber was zurückbleibt, ist doch ein wenig vom Zeigestock: nämlich jene Distanz, die ich einnehme, wenn ich es Ihnen nicht spontan überlasse, mal auf diese schwarzen Quadrate zu schauen, die an der Wand hängen, in weißen Rahmen auf weißer Wand, sondern wenn ich sage: Schauen Sie mal hin! Ich stehe hier, und da ist etwas, was mich interessiert. Und damit habe ich mich distanziert und Sie auch distanziert.

Burghart Schmidt