Werner Fenz, PARADOXIEN DER RAUMERFAHRUNG

Katalog-Text über die Installation "State of Transition" von Sodomka/Breindl in der Neuen Galerie am Landesmuseum Joanneum / Studio, Graz; 7. 5. - 5. 6. 1994


An immer mehr Orten, darunter weniger Galerien - sie verlagern ihre Tätigkeit an den Schreibtisch als Distributionszentrum oder sperren die Lokalität ohne weitere Alternative zu -, dafür aber zunehmend andere Räume, von der Fabrikshalle über die Straßenbahnremise bis hin zu brachliegenden Badeanstalten, wird vor unseren Augen Kunst präsentiert: "wahre" und/oder Ware Kunst. Es werden also, um mit Lyotard zu sprechen, Produkte her- und zur Schau gestellt, die "Anspielungen auf ein Denkbares erfinden, das nicht dargestellt werden kann" und solche, die, trotzdem es uns und damit auch der Kunst nicht zustehe, "Wirklichkeit liefern". |1| 

In diesen unterschiedlichen Modi der Bild- und Objektfindungen, also der visuellen Realisierung von inneren Welten und äußeren Weltbezüglichkeiten kann (und sollte) das gesamte Produktionspotential des künstlerischen Handelns begriffen werden. Den Blick auf Absicht und Ziel der jeweiligen Produzenten gerichtet, scheinen sowohl die solitäre Einzelgestalt als auch die aus dem visuellen und Denk-Umfeld mittels Recherche hervorgebrachte ausgebreitet vor uns zu liegen. Im Zuge der geballten Mediatisierung der sich bereits verselbständigenden sprachlichen Metaebenen und der aus ihren Schlußfolgerungen und Positionierungen erzeugten und diese weitgehend illustrierenden Kunst scheinen sich allerdings Anlaß und der durch diesen ausgelöste Diskurs in ihrer Reihenfolge umzukehren. Die ausufernden und zugleich einschränkenden textlichen Interpretationen können den Eindruck vermitteln, im geschlossenen Kreislauf von Kunstproduktion und ebenso intensiver wie restriktiver Kunstrezeption habe so etwas wie eine Offenlegung der Inhalte Platz gegriffen, noch ehe das Kunstwerk der direkten und unmittelbaren Kommunikation ausgesetzt worden ist. Aus einem nicht erst heute, sondern auch im Zeitalter der Postrnoderne anderen, inzwischen generell deutlich veränderten Diskursstadium kann man der Meinung Lyotards, wir hätten die Sehnsucht nach der Versöhnung von Begriff und Sinnlichkeit, nach transparenter und kommunizierbarer Erfahrung teuer (mit dem Preis des Terrors) bezahlt nur unter der Voraussetzung zustimmen, daß er damit den Klassizismus der Erfahrung, nicht aber die Gegenwart der Erkundung (und des Experiments) meint.

Unter dem Aspekt fragmentarischer oder experimenteller Erkundung sind Begriff und Sinnlichkeit, Konzept und Realisierung, das Vermögen zu denken und das Vermögen darzustellen an einer offenen Schnittstelle angesiedelt. Sie bezeichnet eine imaginäre Grenze, die in den verschiedensten Richtungen, zumindest aber im Richtungsaustausch von innen und außen - als Metapher unterschiedlicher und auch gegensätzlicher Denkraum- und Schaurauminhalte - katalysatorisch wirksam wird. Man muß diese Grenz- und Schnittlinie heute als die wesentlichste Plattform künstlerischer Handlung und Haltung akzeptieren, wobei ihre Positionierung im gesamtkulturellen Erfahrungsraum variabel ist, da die Verbindung einer Vielzahl von Punkten im Koordinatensystem in Betracht kommt. Der empirische Blick auf die Kunstproduktionen der Moderne wie der auf den heute an vielen Stellen aufgebrochenen Kokon der Postmoderne erlauben diese Schlußfolgerung, ohne ein neues interpretatorisches Regelwerk auf die Waagschale der rezeptorischen Vereinnahmung, gegen deren bedenkliche Umtriebe eingangs polemisiert wurde, zu legen: Intelligible Aussagen sind an jenen Schnittstellen zu finden, an denen die die Erwartungshaltung befriedigenden eklektischen Werke geschickt vorbeimanövrieren. Diese sind Hilfsmittel zur Widerspiegelung gesellschaftlicher Kräfte bzw. Illustrationen vorausformulierter Metaebenen, jene eine gesellschaftliche Kraft wie auch der Kristallisationspunkt neu einsetzender Dekodierungsarbeit im positionierenden und erweiternden semiotischen Prozeß.

Wie räumliches Denken mit dem Ende der Zentralperspektive nicht seinen Abschluß gefunden hat, so ist auch die Interaktion von Betrachter und Kunstwerk in neuen Dimensionen immer wieder Gegenstand künstlerischer Untersuchungen. Sodomka/Breindl geht es dabei in "State of Transition" nicht - wie in den achtziger und siebziger Jahren - um die Phänomene des virtuellen Raumes oder um die "Vollendung" des Kunstwerks durch den Konsumenten. Im Gegenteil: die Störung aufgrund von Handlung ist das Ziel. Im Zentrum der Überlegungen und Erkundungen steht die normale Benützungsebene eines Raumes, der mit einfachen technischen Eingriffen und Anordnungen präpariert wird. Für die Aufschlüsselung und qualitative Beurteilung der künstlerischen Methode erweist sich die scheinbar anspruchslose Komposition, gerade im Verzicht auf apparative Überfrachtung, als entscheidender Ausgangspunkt. So widersetzt sich die spartanische Einrichtung des Raumes a priori der eklektischen Produktsorte, das weitere Ausstrahlen in den Stadtraum ist nicht zuletzt deshalb frei von standardisierter Attitüde.

Auch wenn sowohl der Innenraum dieses Straßenlokals, dessen Lage und Funktion die inhaltliche Thematik für die Arbeit bilden, als auch die davorliegende Fassade mit visuellen und akustischen Zeichen besetzt werden, so stellt die Trennwand zwischen Innen und Außen den eigentlichen Auslösefaktor dar. Auslagenscheibe und Eingangstüre als Schnittstelle vorgeprägter unterschiedlicher räumlicher Erfahrungen erzwingen die Modi der künstlerischen Gestaltung und verankem diese im Bewußtsein des Besuchers. Der physische Galeriebesuch, angeregt durch die bewußte Entscheidung oder durch die von außen wahrgenommenen Lichtspuren, beendet nicht nur die sichtbare, sondern auch die tatsächlich mechanische Bewegung: die Stromzufuhr zu zwei Diaprojektoren und zum Motor des sich drehenden Spiegels. So führt der Schritt in den Präsentationsraum durch Bewegungsmelder zum "Verschwinden" der dort präsentierten Dinge. Mit dem Auslöschen des Einen ist zugleich die Initiierung eines Anderen ursächlich verknüpft: Licht und Ton im Außenraum werden aktiviert. Beide sind als visuelle und akustische Phänomene fragmentarisch wahrnehmbar aber nicht konsumierbar.

In dieser zunächst durch das Glas (den Spiegel) gefilterten, letztlich im Vollzug des Kommunikationsaktes verdeckten sinnlichen Wahrnehmungsebene werden jene Konnotationen freigesetzt, die sich, aus dem besonderen Anlaß entstanden, ganz allgemein mit den Phänomenen von Beobachtung beschäftigen. Nicht nur auf die Kunst bezogen, aber an ihr paradigmatisch abgehandelt, stehen die Möglichkeit und die Unmöglichkeit von Vernetzung zur Disposition. Vernetzendes Denken und Handeln wird durch die ultimative Absurdität der in ein einziges Schaltsystem gespeisten Befehle quasi als Positiv- und Negativform konstituiert; die Möglichkeit des Umspringens von einem Zustand in den anderen - ein Paradebeispiel wahrnehmungspsychologischer Praxis - wird durch die Figur des Handelnden unterbunden: Er ist durch seinen erlernten Aktionsradius das Hindernis für sich selbst, der Vorgang spielt sich zwar durch ihn, aber zugleich außerhalb von ihm ab. Denn selbst der Schlüssel, der sperrt ("Don't move don't watch"), liegt als Licht- und Textspur außerhalb seiner Reichweite, in seinem Rücken, im Außenraum. Würde ihn der Besucher requirieren wollen, trägt er wiederum - und nur er - durch seine Annäherung zum Verschwinden bei: Die Licht-Ton-Collage springt um und entfernt sich in den Innenraum. Nicht der zufällige, erst der vorsätzliche Beobachter dieses Handlungsablaufs, den er sozusagen als Ritual, als bewußte Herstellung eines bestimmten räumlichen und geistigen Sachverhaltes, als intelligible Aussage erkennen muß, könnte die fortwährende Segmentierung von Bild- und Toneollagen unterbrechen. Im Beobachten des Betrachters vermag er den Kreis zu schließen und möglicherweise das Verschwinden der Dinge aufzuheben: aber auch nur dann, wenn er zum statischen Requisit der komplexen Anordnung wird und die aus unterschiedlichen Quellen gespeisten Informationen in einer räumlichen und zeitlichen Abfolge nachvollzieht, d.h. Wissen speichert und für kurze Zeit die unterbrochene Kommunikationsstruktur zu überbrücken imstande ist.

Der kunsttheoretische Ansatz von "State of Transition" wirkt sich nicht sosehr auf die Erfindung anderer Wirklichkeiten aus als vielmehr auf den Zugriff auf diese Wirklichkeiten. Sie bewegen sich im Unterschied zu den geläufigen Kommunikationssystemen nicht auf den Betrachter zu, sondern von ihm weg. Will er sich ihnen nähern, etwa um aus den Lichtspuren von Begriffen, die hinter der Auslagenscheibe kontinuierlich den Raum bezeichnen, einen gemeinsamen Code auszumachen, unterbricht er deren kontinuierliche Abfolge. So erlebt man sich zwar einerseits als Teil einer vemetzten Struktur aus Licht, Text und Klang, kann aber andererseits dem Codierungssystem nicht wirklich folgen: Es entzieht sich der eigentlichen Beurteilung. Wenn die Schnittstelle, so wie hier, das Fenster zu einem Ort der Präsentation im urbanen Raum ist, dem nicht a priori die Qualität eines Kunstortes zu eigen ist, stehen auch weitere ästhetisch-kommunikative Strukturen, etwa die der durchschnittlichen medialen Alltagsinszenierung als Gegenbilder im Blickfeld. Das räumliche Denken endet nicht nur nicht mit dem Ende der Zentralperspektive, es endet auch nicht im künstlerischen Raum.

Werner Fenz

 |1| Jean Francois Lyotard, Beantwortung der Frage: Was ist postmodern?, in: Postmoderne und Dekonstruktion, Stuttgart 1990: Philipp Reclam jun., S. 33-48


Dieser Text erschien im Katalog "Sodomka/Breindl, Neue Galerie Studio"; Hrsg.: Gesellschaft der Freunde der Neuen Galerie. Graz, Neue Galerie am Landesmuseum Joanneum, 1994