Ein Haus zum Sprechen bringen

Katalogtext zur Installation "wir waren ja nur Mädchen"

von Martin Breindl, November 1998


zur skizze 1 "Die Schwingungen der Luft, sind sie erst einmal durch die menschliche Stimme in Gang gesetzt, hören nicht zusammen mit den Lauten, die sie hervorgerufen haben, auf zu existieren. Kräftig und hörbar, wie sie in der unmittelbaren Umgebung des Sprechers und im Augenblick ihrer Äußerung sein mögen, sind sie dank der raschen Abnahme ihrer Energie bald schon für das menschliche Ohr nicht mehr vernehmbar. Die Bewegung, in die sie die Partikel eines Teils unserer Atmosphäre versetzt haben, pflanzt sich ständig in wachsendem Umfange fort (...)

Was für ein merkwürdiges Chaos ist, so betrachtet, diese weiträumige Atmosphäre, die wir atmen! Jedes Atom ist durchdrungen von guten und bösen Regungen und enthält zur gleichen Zeit die Bewegungen, die Philosophen und Weise ihm mitgeteilt haben, vermischt und auf zehntausenderlei Weise verbunden mit allem möglichen Wertlosen und Gemeinem. Die Luft selbst ist eine riesige Bibliothek, auf deren Seiten für immer alles verzeichnet steht, was je Männer und Frauen geäußert oder geflüstert haben."

Charles Babbage, The Ninth Bridgewater Treatise; A Fragment, London 1837


EIN HAUS ZUM SPRECHEN BRINGEN

Irgendwann wird ein Gebäude errichtet und dann seiner Bestimmung übergeben. Menschen ziehen ein, benützen es, bewegen sich darin. Damit beginnt dieses Gebäude zu leben. Vielfältigste Begegnungen finden statt, Menschen erleben Freude, Sorgen, Kummer. Sie kommunizieren miteinander, lieben einander, hassen sich und hinterlassen Spuren. Das Gebäude altert. Alles was gesprochen, erlebt und getan wird fällt als eine Art Zeitschatten auf die Architektur eines Ortes. Betritt man einen solchen Ort, fühlt man oft einen Hauch seiner Geschichte. Als gäbe es einen Atem, einen Puls im Material des Hauses, als wäre es durchzogen von sensitiven Nervenbahnen, die alles registriert haben, was je in ihm geschehen ist. Und dann wünschte man, das Gebäude würde seine Geschichte wieder freigeben und einfach zu sprechen beginnen.

Wände haben Ohren, aber Mauern schweigen. Normalerweise.

Ein Haus zum Sprechen bringen, Vergangenes gegenwärtig werden zu lassen heisst die gedachte zeitliche Linearität von Geschichte aufzuheben, dynamische Prozesse zeitgleich zu kumulieren. Wir legen ein Fenster über einen Abschnitt der Zeit, und innerhalb dieses Fensters ist alles simultan vorhanden - erlebbar als Geschehen ohne Ursachen und Wirkungen, ohne hierarchische Abhängigkeiten und moralisierende Wertungen. Je grösser dieses Fenster, dieser Zeitausschnitt ist, desto mehr beginnt die räumliche Stabilität des konkreten Ortes aufzubrechen. Wände verschwinden, die reale Architektur verschwimmt. Die übereinanderliegenden Zeitschatten verdichten sich, erstarren zu realem Geschehen. Was übrigbleibt ist nicht die aus Stein gebaute Architektur des Hauses sondern das vielfältige dynamische Beziehungsgeflecht der Menschen, die sich in ihm beweg(t)en.

DAS ZEITFENSTER / DIE STIMME(N) DES HAUSES

Es gab eine Zeit im Leben des Gebäudes, das jetzt "OK - Centrum für Gegenwartskunst" heisst, da war es ausschliesslich von Frauen bewohnt. 24 Jahre lang - von 1945 bis 1968 - war es der Mikrokosmos einer Klosterschule, der keine Männer zuliess, im Makrokosmos einer Geschichte, in der (zumindest offiziell) keine Frau etwas verloren hatte. Das Fenster, das es aufzustossen galt, geht in eine Zeit, aus der die (männliche) Geschichtsschreibung Frauen verschwinden hat lassen. Wobei seltsamerweise zwei Befreiungsversuche den Rahmen dieses Fensters bilden: die Befreiung von der nationalsozialistischen Ideologie einerseits und die Studentenbewegung des Jahres 1968 andererseits.

Um das Gebäude zum Sprechen über diese Zeit zu bringen, wählten wir als Stimme die Stimmen der Frauen, die damals das Haus belebt haben. Ihre Erlebnisse und Gedanken sollten als sinnlich wahrnehmbare Ereignisse an den Ort zurückgebracht werden, an dem sie entstanden sind. Auf einen Aufruf (mit alten Klassenfotos) in den Medien meldeten sich zahlreiche ehemalige Schülerinnen. Mit etwa 70 von ihnen wurden ausführliche Gespräche geführt, die auf Band aufgezeichnet wurden: über die Schule, über das Leben in dieser Zeit, über das Frauenbild, über Wünsche und Träume und ob sie in Erfüllung gegangen sind; aber auch über Alltäglichkeiten wie Mode, Essen, Kino oder Musik. Die Gespräche wurden nach der "oral history" Methode gestaltet, d. h. in bewusst entspannter Atmosphäre mit nur wenigen behutsamen (Nach-)Fragen. Wichtig war der persönliche Duktus, der möglichst individuellen Erfahrungen Raum geben sollte. Vermieden sollte werden, dass von vornherein eine Realität konstruiert wird, die den Tatsachen nicht entspricht. Und das kristallisierte sich aus den Gesprächen dann auch klar heraus: So etwas wie die Wahrheit existiert nicht. Es gibt eine Fülle von Wahrheiten, die in ihren Weitläufig- und Widersprüchlichkeiten zusammen ein dynamisches Feld ergeben, das wir Wirklichkeit nennen.

zur skizze 2Erst aufgrund der Themen und Problematiken, die allmählich zur Sprache kamen, begann die Arbeit an der formalen Realisation des Projekts. Die "künstlerische" Gestaltung sollte das Zeitfenster aufmachen, den Gesamtkontext herausbilden, und deswegen war es notwendig, sehr behutsam an die Gespräche heranzugehen. Den Gesprächen - gleichzeitig Inhalt und Material der einzelnen Zonen der akustischen Installation, die das Haus füllen sollte - wurden Passagen entnommen, wobei bei der Bearbeitung verschiedene Parameter zu berücksichtigen waren: sowohl semantische und narrative Zusammenhänge als auch akustische und phonetische Stimmigkeiten. Man musste sich von den einzelnen Stimmen tragen lassen. Was sich auch herausstellte: Dass die "kleinen Geschichten", die sogenannten Nebensächlichkeiten, oft weitaus mehr erzählen als die "grossen Wahrheiten".

DIE GEDÄCHTNISMASCHINE

"Umwelten sind keine passiven Hüllen, sondern eher aktive Vorgänge, die unsichtbar bleiben. Die Grundregeln, durchgängige Struktur und die umfassenden Muster entziehen sich einer oberflächlichen Wahrnehmung. Von Künstlern geschaffene Gegen-Umwelten und Gegen-Situationen liefern Mittel, die unmittelbar unsere Aufmerksamkeit erregen und es uns ermöglichen, klarzusehen und zu verstehen."
(Marshall McLuhan, Das Medium ist Massage, Frankfurt/M. 1969)

zur skizze 3Das Haus hat ein Gedächtnis. Dieses ist ein kollektives und hat viele Stimmen. Die künstlerische Aufgabe bestand darin, aus dem Hausgedächtnis einen "stream of consciousness" freizulegen, der das Gebäude aus dem normalen alltäglichen Verwendungszweck herauslöst und die Besucher in das offene Zeitfenster hineinkatapultiert. Den Stimmen Raum zu geben heisst, sich vorwiegend akustischer Mittel zu bedienen. Die Vielfalt an Möglichkeiten der Audiotechnologie erlaubt es, das Gebäude quasi mit einem neuralen Netz von Klangquellen zu überziehen, und es so zum Sprechen zu bringen.

Die Stimmen der Frauen, die das akustische Gedächtnis bilden, wurden "personifiziert", d. h. im Haus wurden kleine Lautsprecher angeordnet, aus denen die Stimmen ertönen. Will man sie verstehen, ihnen zuhören, muss man nahe an sie herangehen - so wie man sich Menschen nähern muss, wenn man ihnen zuhören will. Im Gegensatz dazu steht eine raumfüllende Klanglandschaft, eine akustische Zeitreise durch die Umgebungsgeräusche von damals, die keinen Ort hat - sie ist einfach da und changiert ihre Klangfarbe in ihrem Lauf durch die Zeit.

Die Vielfalt an Gedächtnisspuren, Erlebnissen, Eindrücken und die Komplexität des Hauses machten es notwendig, die Gesamtinstallation in einzelne Bereiche (Zonen) zu teilen, die ursächlich miteinander zu tun haben, sich dem Thema aber von unterschiedlichen Richtungen her nähern:

Zone 1: Stream Of Consciousness
(Eingang, Stiegenhaus Neubau, Schlucht, Saalfoyer, Lift, Brücke 1. Stock)

zur skizze 4Eine Vielzahl von kleinen Lautsprechern in diesen Bereichen. Eine Vielzahl von Gesprächspassagen, Erinnerungsfetzen, kleinen Geschichten über eine Vielzahl von Themen, die an verschiedenen Orten immer wieder auftauchen. Stimmen erklingen zeitgleich, Themen verdichten sich und verlieren sich wieder in der Weite der Räume. Nicht zielgerichtetes Denken sondern der Bewusstseinsstrom eines Kollektivgedächtnisses, in dem Ereignisse ungeordnet auftauchen, unterschiedliche Erinnerungen sich zu Situationen verknüpfen, Widersprüchliches nebeneinander koexistiert. Verflechtung und Entflechtung von Wichtigem und Nebensächlichem. Alles ist in ständiger Bewegung, auch die Besucher müssen sich die Situationen erwandern, entscheiden, wo sie verweilen wollen. Die Bewegung kumuliert im Saalfoyer des 2. Stockwerks, wo die Stimmen sich verdichten und im Kreis um sich selbst und die Besucher drehen.

Dieser Bewusstseinsstrom liegt eingebettet in einer Soundscape, einer akustischen "Zeitreise" durch die Jahre 1945 bis 1968, ausschliesslich aus Klangmaterial generiert, das in jener Zeit im Medium Radio erklungen ist. Gerade in diesen Jahren trat ja eine drastische Veränderung im alltäglichen Umgebungslärm ein. War man bis dahin fast ausschliesslich "natürlichen" Geräuschen aus Natur, Handwerk oder Industrie ausgesetzt, nahmen allmählich "künstliche", von Medien verbreitete Klänge zu, bis sie schliesslich die natürlichen verdrängten. Oder, um mit R. Murray Schafer zu sprechen:

"Radio has become the clock of the western civilization, taking over the function of social timekeeper from the church bell and the factory whistle. (...) Radio has become the birdsong of the twentieth century."
(R. Murray Schafer, Radical Radio, in: Sound by Artists, Toronto 1990)

Zone 2: Brennpunkte der Erinnerung
(3 Klassenzimmer 1. Stock, Stiegenhaus Altbau, Gang Erdgeschoss)

zur skizze 5Einige Themen nahmen in vielen Gesprächen breiten Raum ein, sie hatten also für viele der Frauen, die hier in der Schule Zeit verbrachten, prägenden Charakter. Auffallend war jedoch, dass gerade hier eine grosse Ambivalenz in den Erinnerungen herrschte. Was der einen positiv schien, war für die andere absolut schrecklich. Oft kumulierten widersprüchliche Empfindungen auch in ein und derselben Person:

"Mein Erlebnis von der Einschreibung: (...) Ich habe von der Direktorin einen Vogelkäfig bekommen, so einen Scherenschnitt-Vogelkäfig, den man auseinanderziehen kann, was wunderschönes mit einem bunten Vogel drin. Ich bin in Tränen ausgebrochen, weil für mich war das jetzt nicht das wunderschön geschnittene Geschenk, sondern ein Symbol für Einsperren." (aus einem Gespräch)

Diese Ambivalenzen zeigen deutlich die Unmöglichkeit einer eindeutigen (moralischen) Bewertung von Situationen, etwas, das wahrscheinlich für die Gesamtsituation der Klosterschule umso mehr gilt.

zur skizze 6Aus diesen Themen wählten wir vier aus, um sie in ihrer gesamten Ambivalenz in relativ abgeschlossenen Situationen zu fokussieren: 1. Mikro- und Makrokosmos, oder: Was dringt von der grossen weiten Welt durch die Mauern?, oder der Radioapparat unter dem Kopfkissen; 2. beschützt oder gefangen? oder zwischen Geborgenheit und Ausbruch; 3. Verliere nie den obersten Knopf, oder: das Frauenbild; 4. kein Geräusch, niemals, oder: Leben in der Stille.

Um die elementare Kraft dieser Erinnerungen zu unterstreichen, wurden hier auch starke optische Inszenierungen gewählt. Assoziative Raumsituationen, sich verändernde Bilder, genauso wie sich Erinnerungen verändern, wenn sie in Beziehung gesetzt werden.

Zone 3: Individuelle Archive - das virtuelle Klassenzimmer

In diesem Raum soll den individuellen Stimmen und dem, was sie zu sagen haben, ungeteiltes Gehör gegeben werden. Besucher haben nach ihrem Weg durch das Kollektivgedächtnis des Hauses die Möglichkeit, sich aus ihren persönlichen Motiven heraus (wissenschaftliches Interesse, persönliche Anteilnahme, schlichte Neugier) mit der/n einzelnen Geschichte/n der interviewten Frauen ohne Ablenkung zu beschäftigen.

Aus den Altbeständen des Hauses wurde ein Klassenzimmer eingerichtet, mit originalen Schulbänken und -sesseln. Die Stimmen der Frauen, die einmal an diesen Bänken ihre Schulzeit verbrachten, haben dort wieder Platz genommen. Über Kopfhörer kann man auch Erzählungen hören, die nicht in das Kollektivgedächtnis der Installation Eingang gefunden haben.

KUNSTARBEITERiNNEN

zur skizze 7Das Schaffen einer Gegen-Umwelt oder Gegen-Situation in ihrer inhaltlich / formalen / technischen Komplexität kann sinnvoll nur in der Kommunikation zwischen allen beteiligten Kräften - von Konzeption, Organisation, Gesprächsführung, künstlerischer und technischer Gestaltung bis hin zum Aufbau - erarbeitet werden. Künstlern obliegt die Aufgabe, eine Matrix zu entwickeln, ein Beziehungsgeflecht zu knüpfen, die kreative Menschen aus allen Bereichen zur Arbeit an einem Projekt vernetzt.

Und dann sind die KunstarbeiterInnen Knoten im Netzwerk - genauso wie die TechnikarbeiterInnen und RedaktionsarbeiterInnen und alle anderen. Würde einer dieser Knoten reissen, bedeutete das nicht, dass das Werk besser oder schlechter wäre - es würde schlichtweg nicht existieren. In diesem Fall: bliebe das Haus stumm.

Es würde auch nicht sprechen, hätten nicht über 100 Frauen die Bereitschaft (und oft auch den Mut) gehabt, ihm ihre Stimmen zu leihen.


(künstlerische Konzeption: Andrea Sodomka, Martin Breindl; Text und Skizzen: Martin Breindl)
Dieser Text erschien in: wir waren ja nur Mädchen, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, Schriftenreihe O.K Centrum für Gegenwartskunst - sechsundzwanzig; Linz, 1998