Katalogtext zur Installation "wir waren ja nur Mädchen" von Martin Breindl, November 1998 |
EIN HAUS ZUM SPRECHEN BRINGEN Irgendwann wird ein Gebäude errichtet und dann seiner Bestimmung übergeben. Menschen ziehen ein, benützen es, bewegen sich darin. Damit beginnt dieses Gebäude zu leben. Vielfältigste Begegnungen finden statt, Menschen erleben Freude, Sorgen, Kummer. Sie kommunizieren miteinander, lieben einander, hassen sich und hinterlassen Spuren. Das Gebäude altert. Alles was gesprochen, erlebt und getan wird fällt als eine Art Zeitschatten auf die Architektur eines Ortes. Betritt man einen solchen Ort, fühlt man oft einen Hauch seiner Geschichte. Als gäbe es einen Atem, einen Puls im Material des Hauses, als wäre es durchzogen von sensitiven Nervenbahnen, die alles registriert haben, was je in ihm geschehen ist. Und dann wünschte man, das Gebäude würde seine Geschichte wieder freigeben und einfach zu sprechen beginnen. Wände haben Ohren, aber Mauern schweigen. Normalerweise. Ein Haus zum Sprechen bringen, Vergangenes gegenwärtig werden zu lassen heisst die gedachte zeitliche Linearität von Geschichte aufzuheben, dynamische Prozesse zeitgleich zu kumulieren. Wir legen ein Fenster über einen Abschnitt der Zeit, und innerhalb dieses Fensters ist alles simultan vorhanden - erlebbar als Geschehen ohne Ursachen und Wirkungen, ohne hierarchische Abhängigkeiten und moralisierende Wertungen. Je grösser dieses Fenster, dieser Zeitausschnitt ist, desto mehr beginnt die räumliche Stabilität des konkreten Ortes aufzubrechen. Wände verschwinden, die reale Architektur verschwimmt. Die übereinanderliegenden Zeitschatten verdichten sich, erstarren zu realem Geschehen. Was übrigbleibt ist nicht die aus Stein gebaute Architektur des Hauses sondern das vielfältige dynamische Beziehungsgeflecht der Menschen, die sich in ihm beweg(t)en. |
DAS ZEITFENSTER / DIE STIMME(N) DES HAUSES Es gab eine Zeit im Leben des Gebäudes, das jetzt "OK - Centrum für Gegenwartskunst" heisst, da war es ausschliesslich von Frauen bewohnt. 24 Jahre lang - von 1945 bis 1968 - war es der Mikrokosmos einer Klosterschule, der keine Männer zuliess, im Makrokosmos einer Geschichte, in der (zumindest offiziell) keine Frau etwas verloren hatte. Das Fenster, das es aufzustossen galt, geht in eine Zeit, aus der die (männliche) Geschichtsschreibung Frauen verschwinden hat lassen. Wobei seltsamerweise zwei Befreiungsversuche den Rahmen dieses Fensters bilden: die Befreiung von der nationalsozialistischen Ideologie einerseits und die Studentenbewegung des Jahres 1968 andererseits. Um das Gebäude zum Sprechen über diese Zeit zu bringen, wählten wir als Stimme die Stimmen der Frauen, die damals das Haus belebt haben. Ihre Erlebnisse und Gedanken sollten als sinnlich wahrnehmbare Ereignisse an den Ort zurückgebracht werden, an dem sie entstanden sind. Auf einen Aufruf (mit alten Klassenfotos) in den Medien meldeten sich zahlreiche ehemalige Schülerinnen. Mit etwa 70 von ihnen wurden ausführliche Gespräche geführt, die auf Band aufgezeichnet wurden: über die Schule, über das Leben in dieser Zeit, über das Frauenbild, über Wünsche und Träume und ob sie in Erfüllung gegangen sind; aber auch über Alltäglichkeiten wie Mode, Essen, Kino oder Musik. Die Gespräche wurden nach der "oral history" Methode gestaltet, d. h. in bewusst entspannter Atmosphäre mit nur wenigen behutsamen (Nach-)Fragen. Wichtig war der persönliche Duktus, der möglichst individuellen Erfahrungen Raum geben sollte. Vermieden sollte werden, dass von vornherein eine Realität konstruiert wird, die den Tatsachen nicht entspricht. Und das kristallisierte sich aus den Gesprächen dann auch klar heraus: So etwas wie die Wahrheit existiert nicht. Es gibt eine Fülle von Wahrheiten, die in ihren Weitläufig- und Widersprüchlichkeiten zusammen ein dynamisches Feld ergeben, das wir Wirklichkeit nennen. Erst aufgrund der Themen und Problematiken, die allmählich zur Sprache kamen, begann die Arbeit an der formalen Realisation des Projekts. Die "künstlerische" Gestaltung sollte das Zeitfenster aufmachen, den Gesamtkontext herausbilden, und deswegen war es notwendig, sehr behutsam an die Gespräche heranzugehen. Den Gesprächen - gleichzeitig Inhalt und Material der einzelnen Zonen der akustischen Installation, die das Haus füllen sollte - wurden Passagen entnommen, wobei bei der Bearbeitung verschiedene Parameter zu berücksichtigen waren: sowohl semantische und narrative Zusammenhänge als auch akustische und phonetische Stimmigkeiten. Man musste sich von den einzelnen Stimmen tragen lassen. Was sich auch herausstellte: Dass die "kleinen Geschichten", die sogenannten Nebensächlichkeiten, oft weitaus mehr erzählen als die "grossen Wahrheiten". |
Zone 1: Stream Of Consciousness Eine Vielzahl von kleinen Lautsprechern in diesen Bereichen. Eine Vielzahl von Gesprächspassagen, Erinnerungsfetzen, kleinen Geschichten über eine Vielzahl von Themen, die an verschiedenen Orten immer wieder auftauchen. Stimmen erklingen zeitgleich, Themen verdichten sich und verlieren sich wieder in der Weite der Räume. Nicht zielgerichtetes Denken sondern der Bewusstseinsstrom eines Kollektivgedächtnisses, in dem Ereignisse ungeordnet auftauchen, unterschiedliche Erinnerungen sich zu Situationen verknüpfen, Widersprüchliches nebeneinander koexistiert. Verflechtung und Entflechtung von Wichtigem und Nebensächlichem. Alles ist in ständiger Bewegung, auch die Besucher müssen sich die Situationen erwandern, entscheiden, wo sie verweilen wollen. Die Bewegung kumuliert im Saalfoyer des 2. Stockwerks, wo die Stimmen sich verdichten und im Kreis um sich selbst und die Besucher drehen. Dieser Bewusstseinsstrom liegt eingebettet in einer Soundscape, einer akustischen "Zeitreise" durch die Jahre 1945 bis 1968, ausschliesslich aus Klangmaterial generiert, das in jener Zeit im Medium Radio erklungen ist. Gerade in diesen Jahren trat ja eine drastische Veränderung im alltäglichen Umgebungslärm ein. War man bis dahin fast ausschliesslich "natürlichen" Geräuschen aus Natur, Handwerk oder Industrie ausgesetzt, nahmen allmählich "künstliche", von Medien verbreitete Klänge zu, bis sie schliesslich die natürlichen verdrängten. Oder, um mit R. Murray Schafer zu sprechen: "Radio has become the clock of the western civilization, taking over the function of social timekeeper from the church bell and the factory whistle. (...) Radio has become the birdsong of the twentieth century." |
Zone 2: Brennpunkte der Erinnerung Einige Themen nahmen in vielen Gesprächen breiten Raum ein, sie hatten also für viele der Frauen, die hier in der Schule Zeit verbrachten, prägenden Charakter. Auffallend war jedoch, dass gerade hier eine grosse Ambivalenz in den Erinnerungen herrschte. Was der einen positiv schien, war für die andere absolut schrecklich. Oft kumulierten widersprüchliche Empfindungen auch in ein und derselben Person: "Mein Erlebnis von der Einschreibung: (...) Ich habe von der Direktorin einen Vogelkäfig bekommen, so einen Scherenschnitt-Vogelkäfig, den man auseinanderziehen kann, was wunderschönes mit einem bunten Vogel drin. Ich bin in Tränen ausgebrochen, weil für mich war das jetzt nicht das wunderschön geschnittene Geschenk, sondern ein Symbol für Einsperren." (aus einem Gespräch) Diese Ambivalenzen zeigen deutlich die Unmöglichkeit einer eindeutigen (moralischen) Bewertung von Situationen, etwas, das wahrscheinlich für die Gesamtsituation der Klosterschule umso mehr gilt. Aus diesen Themen wählten wir vier aus, um sie in ihrer gesamten Ambivalenz in relativ abgeschlossenen Situationen zu fokussieren: 1. Mikro- und Makrokosmos, oder: Was dringt von der grossen weiten Welt durch die Mauern?, oder der Radioapparat unter dem Kopfkissen; 2. beschützt oder gefangen? oder zwischen Geborgenheit und Ausbruch; 3. Verliere nie den obersten Knopf, oder: das Frauenbild; 4. kein Geräusch, niemals, oder: Leben in der Stille. Um die elementare Kraft dieser Erinnerungen zu unterstreichen, wurden hier auch starke optische Inszenierungen gewählt. Assoziative Raumsituationen, sich verändernde Bilder, genauso wie sich Erinnerungen verändern, wenn sie in Beziehung gesetzt werden. |
Zone 3: Individuelle Archive - das virtuelle Klassenzimmer In diesem Raum soll den individuellen Stimmen und dem, was sie zu sagen haben, ungeteiltes Gehör gegeben werden. Besucher haben nach ihrem Weg durch das Kollektivgedächtnis des Hauses die Möglichkeit, sich aus ihren persönlichen Motiven heraus (wissenschaftliches Interesse, persönliche Anteilnahme, schlichte Neugier) mit der/n einzelnen Geschichte/n der interviewten Frauen ohne Ablenkung zu beschäftigen. Aus den Altbeständen des Hauses wurde ein Klassenzimmer eingerichtet, mit originalen Schulbänken und -sesseln. Die Stimmen der Frauen, die einmal an diesen Bänken ihre Schulzeit verbrachten, haben dort wieder Platz genommen. Über Kopfhörer kann man auch Erzählungen hören, die nicht in das Kollektivgedächtnis der Installation Eingang gefunden haben. |
(künstlerische Konzeption: Andrea Sodomka, Martin Breindl; Text und Skizzen: Martin Breindl) |