Radio und Radiokunst

von Martin Breindl, März 1991


Radio ist denkbar als Vorform des Reisens der Zukunft, wie man sie aus utopischer Literatur und Film kennt - der Transmission, des Beamens: Das Original, Materie und Mensch, wird am Anfangspunkt der Reise vermittels einer Maschinerie decodiert / in kleinste Einheiten zerlegt / in Wellenform übergeführt; der Transfer oder die Reise selbst findet im entmaterialisierten Zustand statt - außerhalb der Begrenzungen menschlicher Wahrnehmungsfähigkeit - um am Endpunkt - wiederum vermittels einer Maschinerie - in anderer Umgebung neucodiert / materialisiert / wahrnehmbar- zu werden. Kein Verkehrsmittel, so schnell es auch immer sein mag, kann mich der linearen Zeitdauer entheben, die die räumliche Entfernung zwischen Anfangs- und Endpunkt meiner Reise definiert. Erst wenn ich meinen Körper selbst, in verändertem Zustand (also in Wellenform), zum Transportmittel mache, ihn durch den Raum projiziere, durchbreche ich zeitliche Linearität.

Das geschieht im Prinzip mit jeder Radioübertragung.

Radiokunst öffnet das, was uns am Übertragungsraum verborgen bleibt, indem sie hinweisen muß auf die Bedeutungslosigkeit dessen, was im Grunde ohnehin nur noch als Hilfskonstruktion menschlicher Wahrnehmung denkbar ist: die Vorstellung eines zeit/räumlichen Kontinuums, also eines unveränderlichen Raums, in dem die Zeit mit dem Ticken der Uhr gleichmäßig vergeht, ohne Unregelmäßigkeiten oder Sprünge zuzulassen. Das kann Radiokunst an sich, weil "Reisen" für sie weder Symbol (wie es im Entwicklungsroman sinnbildlich für die Reifung des Helden steht) noch Struktur (wie in der Abenteuerliteratur, wo es die Aufeinanderfolge der Ereignisse bedingt) - und somit Ausdruck des Kontinuums - ist. Für Radiokunst ist "Reisen" schlichtweg Ursache ihres medialen Vorhandenseins, Ausdruck des Aufbrechens zeitlicher und räumlicher Einheit.


Ornamentale Reise

Ausgangspunkt der radiophonen Arbeit "Ornamentale Reise" war eine Folge der Fernsehserie "Raumschiff Enterprise (Star Trek)". Eine kadergenaue Untersuchung sowohl der filmischen Parameter (wie Kameraposition, Einstellungsgröße, Brennweite, Kamerabewegung, Schnittfolge u. ä.) als auch der erzählerischen Strukturen (Personen der Handlung, Dialogmuster, Schauplätze) erbrachte strenge Diagramme serieller Natur - ein striktes "Layout", idealtypisch für die medienspezifische Struktur eben dieser Fernsehserien.

Die konsequente Neubesetzung der einzelnen Elemente auf Parameter des anderen Sendemediums (= Radio) ergab eine verzahnte erzählerisch/akustische "Bild"-Folge - ein auditives Ornament auf vier Ebenen:

  1. die "Geräuschebene" (das Auftreten jeder handlungstragenden Figur wurde entweder mit einem "natürlichen" - von einem Filmgeräuschemacher erzeugten - oder einem "künstlichen" - von Synthesizer und Sampler generierten - Filmnebengeräusch belegt),
  2. die "Textebene" (bestimmte, oft auftauchende "totale" Filmeinstellungen umgesetzt durch Textmontagen eines aufgefundenen Radiofeatures),
  3. der "Atmosphären" (den Filmschauplätzen wurden Geräuschkulissen aus dem Archiv zugeordnet) und
  4. die "Zitatebene" (Originalzitate aus "Star Trek" an strategischen Punkten).

Jede dieser Ebenen bildet eine eigene Linie in räumlicher Veränderung und zeitlicher Folge. Erst die Kommunikation ("Vernetzung") zwischen diesen Linien ergibt das eigentliche Stück - nicht als konstruierte Einheit, sondern als zersplitternde Vielfalt von Geräuschen, Satzfetzen und Klängen.


Ornamentale Reise

radiophone Arbeit, 21‘, 1991

produziert im Studio RP 4 des ORF im Rahmen der Serie "RP 4 - Beispiele österreichischer Radiokunst" (Kunstradio)

 

Sprecher: Robert Bilek
Geräusche: Herbert Gießer
Tontechnik: Ing. Gerhard Wieser
Schnitt: Therese Hausl
Text aus der Radiosendung "Martin Heidegger – Denken in dürftiger Zeit" von Nikolaus Halma
Komposition und Textmontage: Martin Breindl
Redaktion: Heidi Grundmann


Dieser Text erschien in: Podium, Literaturzeitschrift Nr. 84, Baden, Mai 1992