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Nahe Ferne. Zeitgleich

Katalogtext zur gleichnamigen Installation

von Sodomka / Breindl / Math, Juli 1994


zur partitur von martin breindl Licht/Klanginstallation für Rotationsprojektionen und Raumbeschallung

von Andrea Sodomka / Martin Breindl / Norbert Math
Fotografie: Clemens Gießmann
Computerbearbeitung: Roland Hille

Entstanden 1992 in Zusammenarbeit mit dem Historiker Gerhard Jaritz für die Ausstellung "Das Andere Mittelalter" in der Kunst.Halle.Krems. Überarbeitet 1994 für die Ausstellung ZEITGLEICH.



Der Salzabbau in Hall begann im Spätmittelalter und leitete eine soziale und geschichtliche Entwicklung ein, die u.a. zu Errichtung, Betrieb und Schließung des Ausstellungsortes führte.

1.

Ausgangspunkt der Installation "Nahe Ferne. Zeitgleich" sind Darstellungen von Gleichzeitig- und Gleichräumlich-keit in Bildwerken des Spätmittelalters.

Werke des Mittelalters unterliegen keiner linearen zeitlichen und räumlichen Ordnung. Ihre Elemente sind Symbole für andere Bedeutungen und erst aus dem Zusammenspiel dieser Elemente ist ein Gesamtwerk entschlüsselbar.

"Das, was wir heute als eklatanten Gegensatz sehen können, braucht für den mittelalterlichen Menschen keineswegs gleich oder ähnlich gewirkt zu haben. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, daß Kontrast gleichzeitig auch Nähe bedeuten kann... Die 'Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen' stellt ein wichtiges Mittel dar, um Kontraste zu symbolisieren oder zu verdeutlichen." (Gerhard Jaritz) |1|

Diese Möglichkeit zu synchronen Strukturen, d.h. keiner "logischen" zeitlichen und räumlichen Ordnung unterworfen zu sein, wird eigentlich erst wieder im Binärcode des Computers zur grundlegenden Struktur.

Digitale Abläufe sind jedoch Ereignisse, die keinem gemeinsamen höheren (abstrakteren) Bezugssystem mehr unterworfen sind. Was in einem mittelalterlichen Bild zeitgleich dargestellt ist (z.B. der pflügende Bauer und das Jüngste Gericht) ist demnach nicht im selben Sinne zeitgleich. Jedes digitale Ereignis hat jede mögliche Geschichte, ist jedem möglichen Weg durch die Raumzeit gefolgt.

2.

ein engel. projektion in der installation

"Man kann die Zeit weder sehen noch fühlen, weder hören, noch schmecken, noch riechen." (Norbert Elias) |2|

Obwohl Zeit nicht sinnlich wahrnehmbar ist, sind die Sinne doch in unterschiedlicher Weise an zeitliche Abläufe gebunden. Das Auge kann sich an einem statischen Bild oder in einer Raumsituation die Richtung, in die es blickt, aussuchen, es kann hin- und wegsehen, es kann entscheiden, was es früher sieht und was später. Die Freiheit hingegen, den Zeitablauf des Gehörten zu bestimmen, ist minimal. Selbst in der Überschallgeschwindigkeit dreht sich die kausal bestimmte Abfolge der Geräusche nicht um.

Analog zum Zeitablauf schafft sich Klang einen Raum, dem der Sinn nicht so leicht entkommen kann (man kann nicht weghören, wie man wegsehen kann). Das Gehörte, wenn es wiederholt wird, kann aus seiner Zeitfolge nicht gelöst werden. Das Instrument zur Vergegenwärtigung von Zeit ist nicht das sichtbare Ziffernblatt/Display der Uhr mit seinen "wiederkehrenden Mustern", sondern ein akustischer Takt - etwa durch ein Metronom erzeugt - der selben Zeitabstände.

Man kann Zeit nicht hören, ebensowenig wie man Raum sehen kann, außer als Manifestation seiner Verunreinigung ("Was man so sehr prächtig Sonnenstäubchen nennt, sind doch eigentlich Dreckstäubchen." Georg Christoph Lichtenberg).

3.

ein dämon. projektion in der installation

Das Paradigma des reinen (absolutum = 'gewaschen') und zugleich verunreinigten Raumes (wie wäre er sonst erkennbar?) mündet in der These, daß Information vor dem Hintergrund (Sonnenstäubchen) des weißen Rauschens erscheint. Der Prozeß der Digitalisierung ist nichts anderes als ein geschicktes und an-scheinend endgültiges Verdrängen des Hintergrundes. Information wird so grob aufgerastert, daß der Staub verschwindet. Mit dem Schmutz verschwindet natürlich auch der Raum und mit ihm der Gegenstand, der nichts als seinen Fingerabdruck (impronta digitale) hinterläßt.

Der Prozeß der Digitalisierung vollzieht sich in der Segmen-tierung der Zeit. Ein Signal wird in Zeitfenstern gerastert, deren Breite den kleinsten angenommenen Zeitpunkt umfaßt (im Falle eines Klanges auf einer CD 1/44100 sek.). So wie mindestens zwei Punkte nötig sind, um eine Strecke zu bezeichnen, sind mindestens zwei solcher Zeitfenster notwendig, damit ein Zeitablauf beschrieben werden kann. Die kürzeste darstellbare Zeitspanne entspricht daher dem Abstand von zwei Zeitfenstern (im Klang: 1/22050 sek.).

Ereignisse, die im Zuge der Digitalisierung in das selbe Zeitfenster fallen, werden als absolut synchrone Ereignisse gespeichert und wiedergegeben, und niemand kann mehr erkennen, welches Ereignis früher und welches später eingetroffen ist. Ein Ereignis kann also vor oder nach dem anderen stattgefunden haben, und wenn diese Ereignisse kausal miteinander verknüpft sind, kann niemand mehr bestimmen, welches Ereignis Ursache oder Wirkung des anderen ist.

Die digitale Aufzeichnung eines Signales läßt also zeitliche Bereiche entstehen, die nicht mehr geteilt werden können. Durch die sehr kurze Dauer dieser Bereiche beachten wir diesen Effekt nicht. Diese Bereiche müssen indes eine Dauer haben, denn hätten sie keine Dauer, wären sie unendlich kurz, und wären sie unendlich kurz, wäre der Speicherbedarf jeder digitalen Aufzeichnung unendlich groß.

Im digital aufgezeichneten Bild entstehen solche minimalen Bereiche ("Pixel" am Bildschirm, "Dots" im Ausdruck) als Bild-punkte, die sowohl als Darstellung ihrer selbst erscheinen als auch als Koordinaten ihrer eigenen Position fungieren (z.B. 'der Punkt, der 100 Pixel vom oberen und 20 Pixel vom linken Rand des Bildes entfernt ist').

Dasselbe gilt für die Zeitbestimmung eines Klanges. Das einzelne Sample ist sowohl der Bereich, wo kein kürzeres Signal mehr möglich ist, als auch die exaktest mögliche Angabe der Zeit (z.B. 'zähle 44100 Samples weiter, und du gelangst zur nächsten Sekunde').

Diese Zeit- und Raumbestimmung, die mit einem Datenbit untrennbar verbunden ist, ist physikalisch nichts anderes als die Adresse, an der es im Com-puter aufgefunden werden kann. Für den Zugriff auf ein Datenbit ist es ohne Belang, ob es sich dabei um ein Bild- oder Klangzeichen handelt. Es ist über seine Positionierung bestimmt und nicht über seine Qualität.

"Ein Bit ist nichts Visuelles. Es unterscheidet sich darin vom Fernsehbildpunkt, der immer noch Punkt eines Bildes, also visuelle Information ist. Ein Bit ist die kleinste Einheit der Zeichen, ein Elementar- und Universalzeichen." (Bernhard Vief) |3|

"Und schließlich ist der Gegensatz zwischen Realität und Fiktion ein solcher, den wir nicht mit den heute wohl meist gewohnten klaren Abgrenzungen beschreiben können. Denn es gilt nicht nur für Einhörner, daß sie existierten und auch immer wieder gesehen wurden." (Gerhard Jaritz) |4|

1 Gerhard Jaritz, "Kontraste", in: "Das Andere Mittelalter. Emotionen, Kontraste und Rituale", Krems, Kunst.Halle.Krems, 1992 (S. 95)
2 Norbert Elias, "Über die Zeit", Frankfurt/Main, Suhrkamp, 1990 (S. VIII)
3 Bernhard Vief, "Über die Unschärfe von Zeitschnitten", in: "On the Air. Kunst im öffentlichen Datenraum", Innsbruck, Transit, 1993 (S. 146)
4 Gerhard Jaritz, op. cit. (S. 100)


Dieser Text erschien in: Zeitgleich; Wien - Hamburg, Triton Verlag, 1995
Online-Version: Kunstradio