Andrea Zschunke, EIN ZEITFENSTER ÖFFNEN Artikel in "Der Standard" anlässlich der Installation "Wir waren ja nur Mädchen" von Andrea Sodomka und Martin Breindl im OK Centrum für Gegenwartskunst OÖ; Nov. 1998 - Feb. 1999 |
Wirklichkeit, erfährt man, setzt sich aus vielen Wahrheiten zusammen. Zum Beispiel solchen, die sich in den Erinnerungen ehemaliger Klosterschülerinnen angesammelt haben. Eine Ausstellung von Andrea Sodomka und Martin Breindl im alten Schulhaus und heutigen "Offenen Kulturhaus" Linz bringt sie zu Gehör * Manchmal hat die Länge eines Rockes mehr Bedeutung als ein Krisengipfel. Und manchmal zeichnen die kleinen, unscheinbaren Dinge des Lebens ein treffenderes Zeitbild als ein Report politischer Großereignisse – die Nachkriegszeit etwa aus der Sicht von Linzer Klosterschülerinnen: Wie mußten sie sich kleiden, durften sie Radio hören, spazierengehen? Und wie war das mit den Burschen? Alltagsgeschichten waren sie auf der Spur, die beiden Interviewerinnen Isabelle Muhr und Sonja Meller, die mit zahlreichen ehemaligen Ursulinenzöglingen über ihre Schulzeit sprachen, große und kleine Ereignisse aus den Jahren zwischen 1945 und 1968 ans Tageslicht beförderten und in der Vergangenheit eines Gebäudes fischten, das bis 1968 ein Ursulinenkloster war und sich heute "Offenes Kulturhaus Linz - Centrum für Gegenwartskunst" nennt. Die Erinnerungen kommen nun an den Ort des Geschehens zurück: Die beiden Wiener Medienkünstler Andrea Sodomka und Martin Breindl haben diese Gespräche als Grundmaterial für eine Klangausstellung verwendet, die ab 26. November das Offene Kulturhaus zwei Monate lang füllen wird. Auslöser für das Projekt waren die Frauen selbst gewesen, die sich nach dem Umbau des Klosters neugierig im neuen Gebäude umsahen, alte Klassenzimmer wiedererkannten und spannende kleine Geschichten zu erzählen wußten. Nach einem Aufruf in den lokalen Medien mit alten Klassenfotos meldeten sich ca. siebzig Frauen, die bereit waren, über ihre Erlebnisse und Erfahrungen im Kloster zu berichten. Die Interviews, die Sodomka/Breindl bewußt delegiert haben ("wir wollten einen persönlichen Bezug zu den Stimmen und Erzählungen aufbauen, nicht aber zu den Gesichtern und Individualitäten der Frauen"), wurden in privater, intimer Atmosphäre geführt, um Raum für assoziatives Erinnern, für scheinbar Nebensächliches zu lassen. "Was wir gerne hören wollten, waren Alltagserlebnisse, Äußerungen zum Frauenbild, Berufsziele, Wünsche und Träume, welche haben sich verwirklicht, welche nicht." Starke Ambivalenzen prägen die Gespräche, Widersprüchliches tut sich auf: Von Psychoterror und von einer lebenspraktischen Schule wird berichtet, von drohenden schwarzen Figuren und von der enormen Würde der Mater, von Stille und von lauten Festen. Wirklichkeit, erfährt man, setzt sich aus vielen Wahrheiten zusammen. "Ein sehr starkes Thema, das sich durch alle Gespräche zieht, ist die Eingeschlossenheit, der Mikrokosmos des Klosters, der einerseits Schutz bedeutete und auch die Möglichkeit einer sehr guten Ausbildung - die Frauen sind alle sehr gebildet, können sehr gut sprechen -, andererseits war es ein Gefängnis. Sehr verändert zwischen 1945 und 1968 hat sich das Frauenbild und der Umgang mit dem anderen Geschlecht. Das ging von der Schwärmerei für Opernstars bis zu Jimi Hendrix. Ein wichtiger Punkt, der sehr viel transportiert, ist die Populargeschichte der Musik, wie auch die Mode. Man durfte ja keine kurzen Ärmel haben, Hosen waren verboten, und eine Lösung war, die Hose heimlich unterm Rock zu tragen, und dann hat man halt den Rock ausgezogen." Mit geradezu wissenschaftlicher Akribie hat das Team die Gespräche transkribiert und geordnet; während der Ausstellung können sie in einem gesonderten Archivraum abgehört werden. Ihr Interesse an diesem außergewöhnlichen Projekt sei auch ein wissenschaftlich-historisches gewesen, so Sodomka/Breindl: "Wir standen bei den Gesprächen immer wieder vor der Situation, daß es sich hier um eine Frauengeschichte handelt, die sehr schlecht dokumentiert ist. Wirklich relevant aufgearbeitet wurde nur die Zeit der Trümmerfrauen, dann fängt es erst wieder mit der feministischen Literatur der späten Sechziger an. Dazwischen klafft eine Lücke, und aus den Gesprächen haben wir sehr schön mitbekommen, was in dieser Lücke eigentlich passiert ist." Damit nicht genug: Die Installation "Wir waren ja nur Mädchen" entführt nicht nur in die Welt von Klosterschülerinnen, sondern verknüpft diese spezielle private Sphäre mit dem Weltgeschehen. In einer Art akustischer Zeitreise werden die lokalen und internationalen Ereignisse der Jahre 1945 bis 1968 in ihrer medialen Form präsentiert, durch dokumentarisches Material, das in diesem Zeitraum im Radio zu hören war. "Die Konfrontation mit der offiziellen Geschichtsschreibung ist dadurch entstanden, daß es auf der einen Seite immer wieder Bezugspunkte der Frauen zu den geschichtlichen Ereignissen gegeben hat, und außerdem war es eine ganz eigene Situation: Die Ursulinenschule war ein geschlossener Ort, den die Schülerinnen kaum verlassen durften, sie durften nicht wissen, daß es Männer gibt, sie durften nicht zum Fenster hinaus schauen, etc. Es ist natürlich trotzdem passiert, und diese Heimlichkeiten, diese Tricks, mit denen es funktioniert hat, daß die Mädchen damals rausgekommen sind, daß sie doch etwas erfahren haben über die große Welt, das war ein sehr spannendes Thema, und deshalb haben wir beschlossen, diese Welt draußen wieder hineinzubringen." Geschichte wird inszeniert. Geschichte im Sinne der kleinen, alltäglichen Erzählung und Geschichte als großes Welttheater korrespondieren miteinander - ein "Zeitfenster öffnen", heißt es metaphorisch über die Klangausstellung. Geschichte kann simultan erfahren werden, zugleich muß sich jeder Besucher seine eigene Geschichte erwandern. Über das Haus verteilen sich viele kleine Lautsprecher denen man sich - wie Menschen - nähern muß, um sie zu verstehen. Drei Zonen gliedern das akustische Geschehen: Ein "Stream Of Consciousness" fließt durch den Eingang, das Stiegenhaus im Neubau, das Saalfoyer; "Brennpunkte der Erinnerung" finden sich im wesentlichen in den drei Klassenzimmern und im Stiegenhaus des Altbaus; die dritte Zone ist das "virtuelle Klassenzimmer", das als Archiv die Interviews in unbearbeiteter Form bereithält. Während in der ersten Zone die Stimmen in unterschiedlicher Dichte und Bewegtheit ein "kollektives Gedächtnis" nachstellen, fokussiert die zweite Zone vier Themen: 1. Mikro- und Makrokosmos oder "Was dringt von der großen weiten Welt durch die Mauern?" oder "Der Radioapparat unter dem Kopfkissen"; 2. Zwischen Geborgenheit und Ausbruch; 3. Das Frauenbild oder "Verliere nie den obersten Knopf"; 4. Leben in der Stille oder "Kein Geräusch, niemals". Eine optische Inszenierung, ein Lichtleitsystem, erhellt die Erinnerungen zusätzlich. "Sampling Art" nennt sich die Methode, mit der Sodomka/Breindl das Haus zum Sprechen bringen. "Wir arbeiten - wie in den meisten unserer Projekte - mit konkretem Material, aus dem wir die Stimmungen destillieren, die in den Gesprächen immer wieder auftauchen, und das sind großartige und weittragende Stimmungen, und dann wieder ganz kleine, beiläufige." Ein behutsamer Umgang mit dem Material, der Stimmungen erlauscht und erhält - das ist ungewöhnlich, gar nicht zeitgeistig und ein entschiedener Einwand gegen postmoderne Beliebigkeit. Es ist der Inhalt, der die künstlerische Umsetzung diktiert, und deshalb geht es in diesem Projekt nicht um elektronische Spielereien, effektvolle Transformationen oder Sprachzertrümmerungen, sondern um die Hörbarkeit von Geschichte(n), die klangliche Faszination der Stimmen selbst, um Färbungen und Aussagen abseits der Wörter. Die Verantwortung einem bestimmten Inhalt gegenüber zieht eine Arbeitsweise nach sich, die die Vorstellung vom einsam werkelnden Künstlergenie zurück ins 19. Jahrhundert schickt und den festgeschriebenen Werkbegriff gleich hinterherschiebt: "Künstlern obliegt die Aufgabe, eine Matrix zu entwickeln, die kreative Menschen aus allen Bereichen zur Arbeit an einem Projekt vernetzt", sagt Martin Breindl: ein dringender Verweis auf alle diejenigen, ohne deren Beteiligung das Offene Kulturhaus stumm bleiben würde. Ein etwa zwanzigköpfiges Team zeichnet für das Projekt verantwortlich, angefangen von den Interviewerinnen über die Tontechniker und Sounddesigner bis hin zur Lichtregie, "ein Team von Spezialisten ohne Spezialistentum; jeder ist fähig, über sein eigenes Fachgebiet hinauszusehen." Andrea Sodomka und Martin Breindl, beide Absolventen der Wiener Hochschule für Angewandte Kunst, arbeiten seit 1986 kontinuierlich zusammen. Sie verstehen sich als offene Gruppe, die sich je nach inhaltlicher Problemstellung für bestimmte Medien entscheidet und aufgrund dieser Entscheidung ein entsprechendes Netzwerk organisiert. Schubladendenken ist passé: "Diese Grenzüberschreitungen zwischen den Kapazitäten und zwischen den verschiedenen persönlichen Leistungsmöglichkeiten haben uns immer sehr interessiert. Es geht nicht um die Frage, ist das jetzt eine künstlerische Bearbeitung oder irgendeine andere, sondern darum, eine Aufgabenstellung oder eine Idee in ihrem Sinne zu erfüllen. Und was wir mit diesem Projekt versuchen, ist, ein historisches, ein ganz persönliches und eben auch ein künstlerisches Konzept zu verwirklichen. Es ist ein Kommentar zu einer Zeit in einen bestimmten Kontext gesetzt." |
Dieser Text erschien in der Tageszeitung "Der Standard" - Kunst & Medien, 20. November 1998 |