WORTSTAUB PARTIKELWELT

generative Performance mit einer Textmaschine

von alien productions / Martin Breindl, August 2000


Teil 1 / Decodierung

"Das Scheitern des Menschen an der Selbstteilung in Körper und Geist, Sprache und Technik gehört in die Pseudohistorie der letzten 100 Jahre. Wilhelm Reich hatte der Trennung entgegengehalten, daß wir nicht Körper hätten, sondern Körper sind. Anerkennt man diesen Satz, werden Bewegung, Muskelkraft, Sinnlichkeit ebenso intelligent wie Sprache, bildliche Erinnerung, mechanische Bedienung."

Manfred Faßler: Stile der Anwesenheit; in: Wunschmaschine Welterfindung,
Eine Geschichte der Technikvisionen seit dem 18. Jahrhundert; Wien, New York: Springer Verlag, 1996

WORTSTAUB PARTIKELWELT ist die bislang jüngste einer Serie von Biofeedbackinstallationen, erarbeitet 1998 gemeinsam mit Petra Ganglbauer und Peter Pessl für das Museum der Wahrnehmung MUWA in Graz. Seit 1993 beschäftigen wir uns mit computerunterstützten Biofeedbacksystemen als Interface zwischen Mensch, Maschine und Raum und realisierten eine Vielzahl von Arbeiten unter Verwendung verschiedenster klang- licht- und bildproduzierender Maschinen.

Ziel, Form und Methodiken dieser Arbeiten sind es, diskrete introvertierte Prozesse eines menschlichen Körpers in den ihn umgebenden Raum zu projizieren. Eine multifunktionale Sensorik misst Körperdaten jeder BenutzerIn und überträgt sie an ein computerunterstützes Biofeedbacksystem, das sie in Steuerdaten übersetzt. Diese greifen auf Datenbanken (analoger und digitaler Art) zu und modellieren in Echtzeit ästhetische Ereignisse wie Klang- und Bildprojektion im Raum.

Die extreme Extraversion intensiviert die Wahrnehmung sich permanent verändernder autoregulativer Prozesse im eigenen Körper. Die Feedbackschleife erlaubt es jedem Menschen, den Raum wie ein Instrument zu spielen - indem er mit seinem eigenen physischen Datenstrom improvisiert. Das permanente Pendeln zwischen Konzentration und Entspannung ist der einzige Auslöser des Geschehens.

Das zentrale strukturelle Motiv der Biofeedbackinstallation ist diese Endlos-Feedbackschleife zwischen Mensch, Computer und (gestaltetem) Umgebungsraum, wobei jedes dieser Elemente als Interface zwischen den jeweils beiden anderen fungiert. Veränderungen im System basieren auf Schwankungen, die durch den übergreifenden Reiz-Reaktions-Mechanismus ausgelöst werden. Man kann die Gesamtsituation (inclusive BenutzerIn) auch als System in labilem Gleichgewicht betrachten, das sich als permanenter Transfer von Datenströmen manifestiert: biomedizinische Daten (wie Puls, Hautleitwert, Körpertemperatur) des Menschen werden über die Sensorik erfasst und an ein Computersystem übertragen, das sie in digitale Steuerdaten für Klang- und Bildmaschinerie übersetzt. Diese produzieren wiederum akustische und optische Signale, die in den Raum projiziert werden. Die Wahrnehmungssensorik des Menschen registriert diese Signale, die wiederum als unmittelbare Reize auf das vegetative Nervensystem wirken. Dessen Reaktion verändert die biomedizinischen Daten - die Schleife ist geschlossen (Abb. 1).

Die (auch künstlerische) Auseinandersetzung mit Interfaces zwischen Mensch und Maschine erhielt durch die Entwicklung von computer-aided Biofeedbackinstrumenten eine neue Dimension. Waren bislang nur analoge Umsetzungen menschlicher Körperdaten - Verstärkung einerseits, diverse (Bewegungs)Sensorik andererseits - möglich gewesen, erlaubt computer-aided Biofeedback den direkten Eingriff in physiologische Datenströme. Von dieser Überlegung ausgehend konstruierte Norbert Math 1993 mit thetaPHASE (Galerie echoraum, Wien) eine Versuchsanordnung, in der zwei Performer Diaprojektionen und Sampling-Maschinen steuerten und somit in der Rückkopplungsschleife ihr Umgebungsszenario veränderten (Abb. 2).

Eine echte Feedbackschleife entsteht jedoch nur bei Verwendung exakter adaptiver Systeme in möglichst vielen Bereichen. Um die feinen Schwankungen des menschlichen Nervensystems und der durch sie ausgelösten Ereignisse transparent zu machen, benötigt man in Messtechnik, Umsetzung und Bild- und Klangerzeugung eine Peripherie, die nicht fixe Voreinstellungen (Presets) abspielt, sondern parametrische Veränderungen zulässt. Bei Body Augmentation von alien productions (Podewil, Berlin, 1996) konnte jede/r BesucherIn selbst den Raum bespielen. Zwar wurden im Bild weiterhin steuerbare Diaprojektoren verwendet, im Klang jedoch mit der Technik von Physical Modelling gearbeitet: Eine Klangsimulation einer Metallplatte, auf die Wassertropfen fallen, wurde in den Raum projiziert. Die Pulsfrequenz steuerte den Rhythmus der Tropfen, der Hautleitwert beeinflusste sowohl die Stärke der Schläge als auch die Spannung der virtuellen Metallplatte (Abb. 3).

Autoregulative Spaces von alien productions (ACE Gallery, Los Angeles, 1998 / Europäisches Forum Alpbach, 1999) führte den Gedanken gleitender parametrischer Veränderungen auch in die Bildprojektion ein: computergenerierte Szenarien, deren Textur, Beleuchtung und Bewegung durch die Körperfunktionen in Echtzeit verändert werden konnten – also Datenkonstruktion und –projektion -, ersetzten die Diaprojektionen, was zum ersten Mal in allen Wahrnehmungsbereichen sehr sensibel reagierende Feedbacksituationen erlaubte (Abb. 4).

Wortstaub Partikelwelt - eine Klanginstallation, verwendete ausschliesslich Klänge, die aus Sprachmaterial generiert wurden. Texte (von Petra Ganglbauer und Peter Pessl) wurden durch Granularsynthese in Sprachpartikel variabler Längen zergliedert und neu zusammengesetzt. Neue Texturen, deren Muster aus kurzen Klangereignissen (Pausen, Atemgeräuschen) entstanden, sich über Phoneme (und Nebengeräuschen des Sprechens, wie Hauch-, Zisch- und Anlaute) verdichteten und sich hin zu Silben, Wortteilen, Worten, Satzteilen und Sätzen verwoben.

Die Körperdaten der BesucherInnen steuerten sowohl die Toleranzfaktoren der Granularsynthese als auch die Klangverteilung im Raumsystem. Je nach Grad von Konzentration und Entspannung wurde der Grad der Zersplitterung der Texte moduliert und in den Raum gelenkt. Sprache in andauernd neuen Entstehungsprozessen umkreiste in einer Anordnung von acht Lautsprechern die BesucherInnen, wurde durch sie hindurchgelenkt und löste so in Feedbackschleifen neue Sprachprozesse aus (Abb. 5).

Der Mensch als Zentrum eines Sprachgenerators / Die Generierung von Sprache als körperlicher Prozess.

Eine computerunterstütze Biofeedbackinstallation kann immer nur als Setting, als Anordnung verstanden werden. Das Material selbst – Klang, Bild oder Sprache – existiert vorerst in seinem reinen Möglichkeitszustand: als Datenfeld, jeglicher Wahrnehmung entzogen, decodiert. Das Werk selbst entsteht erst – und zwar mit jedem/r BenutzerIn individuell – aus Synthese: aus der Verschmelzung von Körperdaten mit jenem Datenfeld. Die Verschmelzung führt zur Ästhetisierung, d. h. Wahrnehmbarmachung einer Situation. Und genau die Wahrnehmung dieser Situation ist (indem sie die Körperdaten beeinflusst) die Grundbedingung für das Werk selbst.

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Mehr zu den Biofeedbackarbeiten von alien productions: AUTOREGULATIVE SPACES

Bildnachweis:
alien productions: Abb. 1, 7
Martin Breindl: Abb. 4, 5
Heinz Cibulka: Abb. 6
Andrea Sodomka: Abb. 2, 3

Sämtliche Biofeedbackarbeiten wurden realisiert mit freundlicher Unterstützung von INSIGHT INSTRUMENTS, Wien
"Reflexion" war eine Auftragskomposition von Jeunesse Musicale und ORF
"Wortstaub Partikelwelt. Brainwaveversion" wurde von ORF Kunstradio produziert


Dieser Text wurde publiziert in: Decodierung - Recodierung (Deterriorialisierung - Deterriorialisierung): ein Lesebuch; Hg.: Toni Kleinlercher. - Wien: Triton, 2000