Alien City / Dialog zweier Passanten in der Menge

Katalogtext zu Performance und Installation beim hamburger musikfest 01

von alien productions / Martin Breindl, September 2001


Wenn ich dir sage, daß die Stadt, der meine Reise gilt, keine Kontinuität in Raum und Zeit besitzt, einmal lockerer und einmal dichter ist, so darfst du nicht meinen, daß man mit dem Suchen aufhören könnte. Während wir gerade sprechen, ersteht sie vielleicht verstreut in den Grenzen deines Imperiums.

Italo Calvino, Die unsichtbaren Städte

Alien City ist eine durch und durch virtuelle Stadt im Cyberspace. Ihre akustischen und optischen Manifestationen komponieren sich aus Elementen verschiedenster Städte dieser Welt, so wie diese sich im Netz repräsentieren. Webcamgrabs, Bilder historischer Ansichten oder utopischer Zukunftsvisionen sowie Klänge aus offenen Mikrofonen und City-Soundscapes sind die Ausgangsmaterialien; diese werden in automatisierten Bearbeitungsroutinen permanent gemorpht, sodass sie eine Stadt ergeben, die ihr Aussehen ständig verändert. Sie könnte alle Städte dieser Welt sein oder keine; sie könnte seit Hunderten von Jahren existieren oder eben erst entstehen. Sie ist eine Stadt der konstanten Veränderung, eine Hybride, eine Stadt in Zwischenräumen, Durchgangsfeldern und Simultanzeiten.

Alien City ist keine fiktive Stadt. Sie existiert tatsächlich, schwebt im Diskontinuum von Zeit und Raum des WorldWideWeb. Die einfache Präsenz jeder neuen BesucherIn bewirkt Veränderungen ihres Aussehens, jede Bewegung führt zu einem Wandel, einer Verschiebung ihres Gesamtgefüges. Aber diese Veränderungen sind subtil. Wie in allen Städten dieser Welt kann man nie wissen, wo sie als nächstes auftauchen werden. Vielleicht wird ein ganzer Stadtteil geschliffen oder ein Dom gebaut. Oder vielleicht wird nur die Fassade eines Kleinfamilienhauses am Stadtrand renoviert. So könnte es möglich sein, dass nach einiger Zeit BesucherInnen bei einem neuerlichen Spaziergang durch die Stadt ein Bild finden, einen Klang, den sie noch nie gesehen, noch nie gehört haben. Aber haben sie ihn ausgelöst, waren andere der Grund dafür?

Alien City ist mit einer permanenten Webcam ausgerüstet; und mit offenen Mikrophonen, die von Zeit zu Zeit Klänge des Alltags einfangen. Ein Stadtplan adaptiert sich beiläufig an die sich ausweitenden Stadtgrenzen. Sogar die historische Dokumentation der Stadt verändert sich mit den Bewegungen der UserInnen. Geschichte war eben schon niemals eine lineare Abfolge von Ursache und Wirkung, sondern ein dynamisches Beziehungsgeflecht zwischen Menschen, Maschinen und ihren Umgebungssituationen.

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Die Plattform führte um den Glockenturm des städtischen Rathauses herum. Die ganze Stadt aber war ein Raumschiff, das hauptsächlich von dieser Stelle aus gesteuert wurde und die gewöhnlich als Beobachtungsstation diente. Von dort aus überblickte man das Sternenmeer, in dem diese Stadt segelte. Es war also eine Kommandobrücke. Das Raumschiff war aber auch eine ganze Stadt, eine Stadt mit Spielplätzen und Gefängnissen, mit Gassen und streunenden Katzen. Und im Turm hing sogar noch eine Glocke, wenn sie auch keinen Klöppel mehr hatte. Wenn man von dem leisen, entfernten Summen der Rotatrone absah, deutete nichts darauf hin, daß die Stadt durch den leeren Raum zwischen den Sternen wirbelte, ein Nomade unter Nomaden.

James Blish, Stadt zwischen den Planeten

Seit ihrem Entstehen manifestiert sich Alien City immer wieder für bestimmte Zeitspannen an bestimmten Orten physisch – in Installationen wie "Sound Drifting" bei der "Ars Electronica 99" in Linz, in Performance-Events wie "Liquid Music. stadtsignaturen" in Judenburg 2000 oder in der Musikhalle Hamburg beim "Hamburger Musikfest 2001". Im selben Mass, wie Alien City die spezifischen lokalen Ambiente beeinflusst, verändern diese "realen" Atmosphären den Charakter der "virtuellen" Stadt, verursachen in ihr einen Realitätssprung auf eine neue Ebene. Alien City saugt Teile der an diesen Orten vorgefundenen Realitäten ein – Stadtansichten und -klänge, Abbilder des Veranstaltungsraums und der Menschen, die sich dort bewegen – und integriert sie im Morphprozess in ihre historische Struktur. Eine neue Stadt entsteht, die doch sie selbst bleibt.

Mit jeder Manifestation landet Alien City an der Schnittstelle zwischen sogenanntem "Realraum" und sogenannter "virtueller Welt". Die Grenze zwischen diesen beiden ist ohnehin durch die Neuen Technologien längst durchlässig geworden. Zu stark sind bereits die Wechselwirkungen, die gegenseitigen Beeinflussungen, als dass man überhaupt noch von zwei Räumen sprechen könnte. Der Raum, in dem wir uns bewegen, ist gleichermassen geprägt vom "Realen" wie vom "Virtuellen", und zwar so sehr, dass uns Unterscheidungen immer schwerer fallen. Die Verflechtung zwischen den beiden ist das geworden, was wir Realität nennen.

Genau diese Verflechtung ist Grundbedingung für die Existenz von Alien City. Wachstum entsteht aus der Inkorporation von Wirklichkeitsfragmenten jener Orte, an denen sie sich für kurze Zeit niederlässt. Die generativen und prozessualen Strukturen, mit denen diese Fragmente neu geordnet und verändert werden, stammen vielleicht von anderen Orten, Menschen, Maschinen oder Programmen. Ursachen sind nicht mehr auszumachen – aber das ist das Wesen von Alien City. Und wenn sie nomadisch an einen anderen Ort driftet, wird sie diesen wiederum durch ihre Anwesenheit verändern. Sie fügt dem Ort eine neue Dimension hinzu, die er ohne sie nie haben könnte. Sie schickt Signale aus und empfängt Signale. Alien City is on the move.

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Manchmal genügt mir eine Lichtung in einer maßlosen Landschaft, ein Aufleuchten von Lichtern im Nebel, der Dialog zweier Passanten, die sich im Gedränge begegnen, mir vorzustellen, daß ich von hier Stück um Stück die vollkommene Stadt zusammensetzen werde, errichtet aus Fragmenten, die mit dem Rest vermischt sind, aus Augenblicken, die durch Intervalle getrennt sind, aus Signalen, die einer ausschickt, ohne zu wissen, wer sie empfängt.

Italo Calvino, Die unsichtbaren Städte

Das Andockmanöver von Alien City an Hamburg ist ein allmähliches. Bereits einige Zeit davor finden on line subtile Veränderungen statt, die darauf hinweisen, dass die Stadt auf dem Weg an einen konkreten Ort ist. Über terrestrische Rundfunkmedien werden Signale ausgesendet. Sie verdichten sich zu einem Countdown, der die Ankunft der Stadt in Hamburg vorbereitet.

Mit Dialog zweier Passanten in der Menge, der Eröffnungsperformance, beginnt die Manifestation von Alien City in der Musikhalle Hamburg. Der Aufführungsort wird durch multiple Klang- und Bildprojektionen verwandelt. Eine permanent sich verändernde Stadtlandschaft bildet die kinetische Kulisse, in der ein Avatar agiert – als Repräsentant der interaktiven virtuellen BewohnerInnen der Stadt. Diese haben eigene Persönlichkeitsprofile, führen ein Eigenleben, verändern Charakter und Aussehen und haben die Fähigkeit, mit UserInnen und PerformerInnen Kontakt aufzunehmen, auf sie zu reagieren.

Der Avatar verwickelt eine "reale" Person, die sich im Publikum befindet, in einen Dialog. Die Interaktion zwischen "menschlicher" und "virtueller" Persönlichkeit und die gegenseitigen Veränderungen von Verhaltensmustern bilden die eigentliche Aktion. Die Verschmelzung von "Realraum" und "virtueller Welt" wird vollständig, wenn die PerformerIn sich im Lauf der Performance allmählich in Alien City materialisiert, um dort und im WorldWideWeb ein zweites (virtuelles) Leben zu beginnen.

Die On-Site Installation ist auf längere Dauer ausgelegt. Zeitabläufe wiederholen sich scheinbar, aber Veränderungen treten ein. Unmerklich zuerst, später deutlich wird die Stadt Hamburg Alien City verändern. Fragmente ihres Erscheinungsbildes werden auftauchen, mit anderen verschmelzen. Wahrzeichen vielleicht oder Schlichtes, ein Bild oder ein vertrauter Klang aus den Strassen. Wann und wo sie auftauchen, ist nicht vorhersehbar und ob sie eine permanente Existenz in Alien City führen werden, ebensowenig.

Das Publikum ist eingeladen zu verweilen oder auch immer wieder zu kommen. Bei jedem Durchqueren der Grenzbereiche an den Eingängen zum Brahmsfoyer werden die BesucherInnen von Überwachungskameras erfasst. Der einen oder anderen kann es schon passieren, dass sie sich später in Alien City wiederfindet - wie die PerformerIn materialisiert in der virtuellen Stadt. Sie ist zur BewohnerIn geworden, sitzt dann vielleicht mit Avataren beim Frühstück oder spielt mit Künstlichen Intelligenzen Badminton. Sie lernt vielleicht jemanden kennen, der aus einer österreichischen Kleinstadt stammt oder steht staunend vor dem Eiffelturm, ohne sich bewegt zu haben.

Genauso allmählich, wie Alien City angekommen ist, reist sie auch wieder ab. Ihre Signale sind vielleicht noch länger zu hören auf ihrem Weg zum nächsten Landeplatz in Graz, wo sie genau drei Wochen später sich erneut manifestiert. Hamburg wird sich fragmentarisch rematerialisieren an diesem Ort, sich mit ihm vermischen und vorhanden bleiben in der virtuellen Stadt.

Was und wen Alien City mit sich nimmt, wenn sie nomadisch weiterzieht, wissen wir nicht. Man kann als BesucherIn im WorldWideWeb ihren Weg und ihr Wachstum weiterverfolgen – um wiederum Veränderungen auszulösen. Alien City wird sich erneut an anderen Orten manifestieren, sich verändern und bleiben, was sie im Grunde ist: on the move.

 

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Alien City

Area: changing
Population: varying
Altitude: unknown


Alien City existiert seit 1999 unter: http://alien.mur.at/aliencity/

Alien City On Site in Installationen und Performances:
- Linz, A; 1. – 9. 9. 1999: als Subprojekt von "Sound Drifting", On Line-On Site-On Air Installation, bei "Ars Electronica 99"
- Judenburg, A; 4. 8. 2000: bei "Liquid Music. stadtsignaturen"
- Hamburg, Musikhalle, D; 21. 9. 2001: bei "Hamburger Musikfest"
- Graz, Dom im Berg, A; 12. – 13. 10. 2001: bei "musikprotoll im steirischen herbst 2001"

Alien City is created by alien productions (Breindl / Math / Sodomka)


Dieser Text erschien im Programmbuch des Hamburgischen Musikfestes 2001; Hrsg.: Hamburger Musikfest GmbH; Hamburg, 2001