Liesl Ujvarys Musik

Vortrag, gehalten am 12. 3. 2004 im literarischen quartier alte schmiede, Wien
anlässlich des "Literarischen Portraits: Liesl Ujvary" | von Martin Breindl

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  1. Rezepturen
  2. Das Material
  3. Die Synthese
  4. Der Rhythmus
  5. Die Welthaltigkeit - Die Sprache
  6. Kontrollierte Spiele

"Liesl Ujvary kocht und ißt gern Iglos Junges Sommergemüse, Karotten, Kohlrabi, Kartoffeln und Porree. Packungsinhalt unaufgetaut in ca. 1/4 l kochendes Salzwasser geben und 8 – 10 Minuten kochen. Wasser abgießen, etwas Butter, Pfeffer und granulierten Knoblauch dazu, mit einem Stück Vollkornbrot essen.
Oder Ja! Natürlich! Frische Erbsen aus biologischer Landwirtschaft.
Den Packungsinhalt tiefgefroren in einen Topf mit etwa einer Tasse kochendem Salzwasser geben. Dann aufkochen und bei schwacher Hitze unter mehrmaligem Umrühren ca. 5 – 7 Minuten garen. Wasser abgießen, etwas Butter, Pfeffer und granulierten Knoblauch dazu, mit einem Stück Vollkornbrot essen.
Oder Ja! Natürlich! Feine Fisolen aus biologischer Landwirtschaft.
Den Packungsinhalt tiefgefroren in einen Topf mit zwei Tassen kochendem Salzwasser geben. Dann aufkochen und bei schwacher Hitze unter mehrmaligem Umrühren ca. 6 – 8 Minuten garen. Wasser abgießen, etwas Butter, Pfeffer und granulierten Knoblauch dazu, mit einem Stück Vollkornbrot essen. Eventuell Frankfurter dazu." |1|

So verfährt Liesl Ujvary, wenn sie kocht und isst. Zumindest wenn man ihrem "Rezept" glauben darf, den sie zu dem von Bodo Hell/Hil de Gard/Linde Waber herausgegebenen "Künstler Kochbuch": "Das Gericht – ein Gedicht" beigetragen hat. Wie verfährt sie aber, wenn sie Musik macht? Gäbe es da vielleicht eine Rezeptur, der man auf die Schliche kommen könnte? Lüften wir doch einmal die Deckel in Ujvarys musikalischer Küche, um vorerst einige Thesen aufzustellen:

das Material, oder die Ingredienzien (für ein Musikstück):

Ujvary erfindet nicht etwa, sondern sie findet. Sie gibt nicht Anweisung, etwas herzustellen (bzw. stellt es selbst etwa her), sondern nimmt bereits vorhandene Materialien. Es sind dies Materialen unserer alltäglichen Umwelt, wie sie jede/r von uns finden könnte. Es sind überdies bereits mediatisierte Materialien – damit meine ich bereits aus der Natur gerissene und somit informierte Materialien (das ist die Grundkategorie industrieller Arbeit, nach Vilém Flusser |2|) –: im Falle des Kochens: Kohlrabi, Erbsen, Karotten aus industriellem Tiefkühlpack. Im Falle von Musik: vermittels Mikrophon und Tonaufzeichnungsapparaturen (wie Bandgerät, DAT oder ähnliches) aus der Natur gerissene und somit informierte Geräusche oder Klänge. Ob diese von der Autorin selbst aufgenommen oder etwa in Klangarchiven gefunden sind oder als Klangmöglichkeit in Computern vorhanden, spielt dem Wesen nach keine Rolle.

das Prozessieren, oder die Zubereitung (eines Musikstücks):

Diese informierten Materialien werden nun einem Prozess unterworfen, der diese Materialien von einem (möglichen) Seinszustand in einen anderen (ebenfalls möglichen) Seinszustand transformiert. Im Falle des Kochens unter Hinzufügen von gesalzenem Wasser und Wärmeenergie. Im Falle der Musik unter Hinzufügen zusätzlicher Information oder Wegfiltern bereits vorhandener Information (das Spannungsverhältnis dieser beiden Vorgänge ist später noch eingehender zu klären). Beides geschieht unter Zuhilfenahme hochkomplexer Apparaturen. Etwa eines elektrischen Herdes einerseits – der nichts anderes ist als ein Interface, mit Hilfe dessen es der Köchin möglich ist, an der durch einen mächtigen Flusslauf oder den Zerfall eines Atomkerns ausgelösten Energietransformation zu partizipieren. Auf der anderen Seite geschieht dies durch einen sogenannten Computer, auch ein Interface, durch das es uns möglich ist, an der komplexen Programmstruktur, die wiederum ein interdependentes Verhältnis zwischen sogenannter Hardware und sogenannter Software darstellt, zu partizipieren. Also summa summarum – und einfacher gesagt: In beiden Fällen stecken wir die Zutaten in Apparate, denen wir vertrauen, obwohl wir nicht im geringsten wissen, wie sie funktionieren, und rühren darin um. Mit einem eleganteren Ausdruck könnte man das durchaus als "Synthese" bezeichnen.

der Rhythmus, oder die zunehmende Redundanz:

Nun brodelt es also im Topf. Beruhigt hören wir dem rhythmischen Blubbern zu und zu recht sind wir beruhigt, denn wir wissen, dass durch diesen Rhythmus die Zutaten redundant (d.h. geniessbar werden). Wir möchten ja beim Essen nicht durch plötzlich und unvermutet auftauchende Information (wobei dies ja eine Tautologie ist, denn Information tritt immer plötzlich und unvermutet auf) gestört werden – etwa dadurch, dass eine Fisole noch roh wäre. Um dies zu erreichen, müssen wir aber darauf achten, den richtigen Rhythmus zu finden: Ist er zu langsam, wird das Zeug nicht weich, ist er zu schnell und es brodelt zu sehr im Topf, wird das ganze zu unstrukturiertem Matsch. Ujvarys Rhythmisierungstechniken haben eine ähnliche Funktion: sie desinformieren das Ausgangsmaterial einerseits in Richtung zunehmender Redundanz, d.h. machen es partizipationsfähig, strukturieren es andererseits, indem sie die einzelnen Elemente in immer andere Zusammenhänge zueinander setzen. Die Folgen sind: keine Rohaufnahmen und auch kein Klangbrei.

das fertige Essen, oder die "Welthaltigkeit":

Endlich ist angerichtet. Wir setzen uns vor den dampfenden Teller, bzw. legen Ujvarys CD ein. Die in beiden Fällen durch Synthese entstandenen Endprodukte (wenn man von solchen sprechen kann) sind – wie eben formuliert – von einem Möglichkeitszustand in einen anderen Möglichkeitszustand übergeführt worden und haben solcherart einen Mehrwert bekommen. Bei Fisolen, Kohlrabi und "vielleicht Frankfurtern" äussert sich dieser Mehrwert eindeutig als Nährwert, während bei Liesl Ujvarys Musik der Mehrwert in einer durch Strukturierung gewonnenen Bedeutungsaufladung sich äussert (was dem Grunde nach ein und dasselbe ist). Was immer diese Bedeutungen sein mögen – fest steht, dass – in beiden Fällen – sich bloss die Möglichkeitsform des Ursprungsmaterials verändert hat. Als solches selbst ist es – aller Transformation zum Trotz - nach wie vor vorhanden. Und so können wir bei heissem Iglos Jungem Sommergemüse und bei Ujvarys heisser Musik getrost davon sprechen, dass beide "welthaltig" wären – in eben diesem existentiellen Sinn, dass sie tatsächlich mit unseren Lebenszusammenhängen zu tun haben und zu diesen beitragen.

Soweit die Thesen. Natürlich wäre es zu simpel, Ujvarys Musik einfach als Zubereitung von Fertigware zu begreifen. Die Analogien sind strukturellerer Natur. Kehren wir also wieder an den Anfang zurück und wenden wir uns ausschliesslich den musikalischen Parametern zu.

¦ weiter zu 2. Das Material ¦


1 |   Liesl Ujvary, "Kochen und Essen", in: "Das Gericht - ein Gedicht, dokumentierte KochKunst grenzüberschreitend"; Wien, Edition Splitter, 2000

2 |   "Die Grundkategorie der Industriegesellschaft ist Arbeit: Werkzeuge und Maschinen leisten Arbeit, indem sie Gegenstände aus der Natur reißen und sie informieren, das heiίt die Welt verändern.", Vilιm Flusser, "Fόr eine Philosophie der Fotografie" (1983), Göttingen, European Photography, 1997